Zirkuskind
er mit den Füßen in den Schlaufen
hing, so poetische Gedanken durch den Kopf gingen wie Farrokhs fiktiver Gestalt.(»Es
gibt einen Augenblick, in dem deine Hände loslassen müssen… In dem Augenblick bist
du in niemandes Händen. In diesem Augenblick hängt jeder in der Luft.«) Sehr unwahrscheinlich
– kein Gedanke, der einem Küchengehilfen spontan in den Sinn kommen würde. Wahrscheinlich
beging der elefantenfüßige Junge auch den Fehler, die Schlingen zu zählen. Ob er
gezählt hat oder nicht, die Vorstellung, daß er sich selbst Anweisungen zum Durchlaufen
der Schlingen gegeben hat, ist ziemlich abwegig.
(»Ich sage mir vor,
ich gehe, ohne zu hinken.«) Das glaubst du doch selber nicht! sagte sich Dr. Daruwalla.
Der Stelle nach zu urteilen, an der man den Körper des Krüppels fand, war der echte
Ganesh auf weniger als dem halben Weg durch die [932] Zirkuskuppel abgestürzt. Die
Übungsleiter hatte achtzehn Schlaufen. Der Deckenlauf bestand aus sechzehn Schritten.
Mrs. Bhagwans Expertenmeinung zufolge war der Elefantenjunge nach nur vier oder
fünf Schritten hinuntergefallen. Beim Üben in ihrem Zelt hatte er auch nie mehr
als vier oder fünf Schritte geschafft, sagte die Artistin.
Diese Nachricht
gelangte nur langsam nach Toronto. Mr. und Mrs. Das drückten Dr. Daruwalla schriftlich
ihr Beileid aus; der Brief traf mit einiger Verzögerung ein, weil er falsch adressiert
war. Der Zirkusdirektor und seine Frau fügten hinzu, Mrs. Bhagwan würde sich die
Schuld an dem Unfall geben, sei aber davon überzeugt, daß man dem Krüppel den Deckenlauf
nie hätte beibringen können. Ihr Kummer würde sie ohne Zweifel etwas ablenken. Die
nächste Nachricht von Mr. und Mrs. Das besagte, daß Mrs. Bhagwan, ausgebreitet auf
der rotierenden Zielscheibe, von ihrem messerwerfenden Gatten getroffen worden sei.
Sie hatte keine ernsthafte Verletzung erlitten, gestand sich aber nicht die Zeit
zu, sie auszukurieren. So kam es, daß sie am folgenden Abend beim Deckenlauf abstürzte.
Sie war nur so weit gekommen wie Ganesh, und sie fiel ohne einen Schrei. Ihr Mann
behauptete, sie habe von dem Tag an, an dem der Elefantenjunge abgestürzt war, Schwierigkeiten
mit dem vierten und fünften Schritt gehabt.
Mr. Bhagwan weigerte
sich, je wieder ein Messer zu werfen, auch dann noch, als man ihm mehrere Zielpersonen,
allesamt kleine Mädchen, zur Auswahl anbot. Der Witwer setzte sich halb zur Ruhe
und führte nur noch die Nummer mit der Elefantenbrücke vor. Damit schien er sich
in gewisser Weise selbst zu bestrafen – jedenfalls vertraute der Zirkusdirektor
Dr. Daruwalla diese Vermutung an. Mr. Bhagwan legte sich unter den Elefanten – zunächst
mit immer weniger Matratzen zwischen sich und dem Boden auf der einen und seinem
Körper und der Planke für den Elefanten auf der anderen Seite. Dann arbeitete [933] er
ganz ohne Matratzen. Er erlitt innere Verletzungen, wie Mr. Das und seine Frau andeuteten.
Dann wurde er krank, und man schickte ihn nach Hause. Später erfuhren Mr. und Mrs.
Das, daß Mr. Bhagwan gestorben war.
Irgendwann kam Dr.
Daruwalla zu Ohren, daß alle Zirkusangehörigen krank geworden waren. Von Mr. und
Mrs. Das kamen keine Briefe mehr. Der Great Blue Nile Circus war spurlos verschwunden.
Sein letztes Gastspiel hatte er in Poona gegeben, wo es hieß, eine Überschwemmung
habe seinen Niedergang herbeigeführt. Es war eine kleine Überschwemmung, keine gewaltige
Katastrophe, nur nahm man es im Anschluß daran im Zirkus mit der Hygiene nicht mehr
so genau. Mehrere Raubkatzen erlagen einer unbekannten Krankheit, und unter den
Artisten grassierten Anfälle von akutem Durchfall und Magenschleimhautentzündung.
Im Handumdrehen war der Great Blue Nile von der Bildfläche verschwunden.
War Gautams Tod
ein Vorbote gewesen? Der alte Schimpanse war knapp zwei Wochen nachdem er Martin
Mills gebissen hatte, an Tollwut gestorben. Kunals Bemühungen, den Affen mit Schlägen
zu disziplinieren, waren umsonst gewesen. Aber am deutlichsten von allen Zirkusangehörigen
blieb Dr. Daruwalla Mrs. Bhagwan in Erinnerung – mit ihren zerschundenen Füßen und
ihrem langen, glänzendschwarzen Haar.
Der Tod des Elefantenjungen
zerstörte einen kleinen, aber wichtigen Teil von Farrokhs Leben. Was dem echten
Ganesh zugestoßen war, wirkte sich auf das ohnehin schwindende Zutrauen des Drehbuchautors
zu seinen schöpferischen Kräften unmittelbar lähmend aus. Das Drehbuch zu Limo-Roulette hatte durch den Vergleich mit dem
echten Leben
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