Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
gelitten. Am Ende klang die Bemerkung des echten Ganesh am wahrsten.
»Was Elefanten anrichten, kann man nicht reparieren«, hatte der Krüppel gesagt.
    So kam es, daß mit
dem Verschwinden des Great Blue Nile [934]  auch das Drehbuch zu Limo-Roulette in der Versenkung verschwand. Es
ruhte in der untersten Schreibtischschublade in Dr. Daruwallas Wohnung; in seiner
Klinikpraxis wollte er keine Kopie aufbewahren. Sollte er plötzlich sterben, hätte
er nicht gewollt, daß jemand anderer als Julia das unverfilmte Drehbuch entdeckte.
Das einzige Exemplar befand sich in einem Aktenordner mit der Aufschrift
    E IGENTUM VON I NSPECTOR D HAR
    denn Farrokh
war davon überzeugt, daß nur John D. wissen würde, was damit anzufangen sei, wenn
es soweit war.
    Ohne Zweifel wären
Kompromisse erforderlich, um Limo-Roulette zu verfilmen; im Filmgeschäft gab es immer Kompromisse. Jemand
würde behaupten, die über die Szene gelegte Stimme wirke »emotional distanzierend«
– so jedenfalls lautete die derzeitige Einschätzung. Jemand würde sich beschweren,
daß das kleine Mädchen von einem Löwen getötet wird. (Wäre es nicht möglich, daß
Pinky an den Rollstuhl gefesselt bleibt, aber glücklich weiterlebt?) Und trotz des
Schicksals, das dem echten Ganesh widerfahren war, gefiel dem Drehbuchautor der
Schluß genau so, wie er ihn geschrieben hatte. Jemand würde an diesem Schluß herumpfuschen
wollen, und das könnte Dr. Daruwalla nie zulassen. Er wußte, daß Limo-Roulette nie so vollkommen sein würde wie
damals, als er es geschrieben hatte, und als Autor überschätzte er sich ganz eindeutig.
    Die Schublade war
ziemlich tief für magere einhundertachtzehn Seiten. Farrokh füllte sie mit Fotografien
von Chromosomen auf, fast als sollten diese dem verwaisten Drehbuch Gesellschaft
leisten. Seit Duncan Frasiers Tod war Dr. Daruwallas Zwergenblutprojekt mehr als
erlahmt – die Begeisterung, mit der er Zwergen Blut abgenommen hatte, war so tot
wie der homosexuelle Genetiker. Wenn irgend etwas oder irgend jemand [935]  Dr. Daruwalla
je zu einer Rückkehr nach Indien verführen könnte, dann sicher nicht die Zwerge.
    Von Zeit zu Zeit
las Dr. Daruwalla seinen perfekten Schluß von Limo-Roulette – bei dem der Krüppel durch die
Zirkuskuppel geht –, weil er den echten Ganesh nur mit diesem Kunstgriff am Leben
erhalten konnte. Er liebte diesen Augenblick nach dem Deckenlauf, wenn der Junge
im Zahnhang herabschwebt, im Scheinwerferlicht kreiselnd, während die glitzernden
Pailletten auf seinem Trikot das Licht zurückwerfen. Farrokh fand es wunderbar,
daß der Krüppel den Boden nicht berührt; daß er in Prataps ausgestreckte Arme gleitet
und dieser den Jungen hochhält und dem jubelnden Publikum zeigt. Dann läuft Pratap
mit Ganesh in den Armen aus der Manege, denn nachdem der Krüppel über den Zelthimmel
gelaufen ist, darf ihn niemand hinken sehen. Es hätte funktionieren können, dachte
der Drehbuchautor; es hätte funktionieren sollen.
    Dr. Daruwalla war
zweiundsechzig und einigermaßen gesund. Sein Gewicht war kein ernsthaftes Problem,
und er hatte bisher auch wenig unternommen, um Exzesse, die er durchaus eingestand,
aus seinem Speiseplan zu streichen. Er rechnete schon damit, noch ein oder zwei
Jahrzehnte zu leben. Gut möglich, daß John D. selbst über sechzig war, bis Limo-Roulette in seine Hände gelangte. Der ehemalige
Inspector Dhar würde wissen, für wen die Rolle des Missionars gedacht war; außerdem
hätte er so gut wie keine persönliche Beziehung zu der Geschichte und ihren Personen.
Falls bei der Verfilmung von Limo-Roulette Kompromisse erforderlich wären, wäre der Schauspieler in der Lage,
das Drehbuch objektiv zu beurteilen. Dr. Daruwalla hatte keinen Zweifel, daß er
wissen würde, was mit dem Material zu geschehen hätte.
    Aber vorerst – Farrokh
wußte, daß es für den Rest seines Lebens sein würde – gehörte die Geschichte in
die unterste Schublade.
    [936]  Schon am Verblassen
    Knapp
drei Jahre, nachdem der Drehbuchautor im Ruhestand Bombay verlassen hatte, las er
von der Zerstörung der Babar-Moschee – eine Folge der endlosen Feindseligkeiten,
über die er sich einst in Inspector Dhar und der hängende Mali lustig gemacht hatte. Fanatische
Hindus hatten die Moschee aus dem sechzehnten Jahrhundert zerstört, und bei den
Krawallen waren mehr als vierhundert Menschen ums Leben gekommen. Premierminister
Rao forderte, sowohl in Bhopal als auch in Bombay sollten Randalierer ohne

Weitere Kostenlose Bücher