Zirkuskind
Slum zu räumen, damit Gordon Hathaway
seine Szene drehen konnte. Noch viel mehr künftige Bewohner dieses neuen Slums drängten
herbei, begierig darauf, sich hier einzunisten. Wären diese Schaulustigen bei Veronica
Roses Anblick nicht ausnahmslos wie versteinert gewesen, hätte vielleicht jemand
bemerkt, wie Neville und Subodh miteinander flirteten, sobald keine Kamera lief;
sie stupsten und kitzelten einander gerade verspielt, als Vera unerklärlicherweise
der Kuh Aug in Auge gegenüberstand.
Kühe, so hatte Vera
gehört, waren heilig – wenn auch nicht für die Mehrheit der rindfleischessenden
Umstehenden, die Muslime waren –, aber der Anblick dieser Kuh, die ihr erst den
Weg versperrte und dann auf sie zukam, schockierte sie derart, daß sie ziemlich
lange brauchte, um zu entscheiden, wie sie sich verhalten sollte. Inzwischen spürte
sie den feuchten Atem der Kuh in ihrem Dekolleté; da man sie (im Film) im Nachthemd
aus dem Taj Mahal entführt hatte, war ihr Dekolleté recht [178] beachtlich und freizügig.
Die Kuh war mit Blumen geschmückt und trug um die Ohren auf Lederschnüre aufgefädelte
bunte Perlen. Weder die Kuh noch Vera schienen zu wissen, was sie von diesem Zusammentreffen
halten sollten, aber Vera wußte zumindest, daß sie auf gar keinen Fall gegen irgendwelche
religiösen Vorschriften verstoßen wollte, indem sie sich auch nur ansatzweise aggressiv
gegenüber der Kuh verhielt.
»Oh, was für hübsche
Blumen!« stellte sie fest. »Oh, was für eine hübsche Kuh!« sagte sie zu der Kuh.
Veronica Roses Repertoire an freundlichen, nicht beleidigenden Bemerkungen war äußerst
mager. Sie hielt es nicht für angebracht, ihre Arme um den Hals der Kuh zu schlingen
und ihr längliches, trauriges Gesicht zu küssen; sie war nicht sicher, ob sie die
Kuh überhaupt berühren sollte. Aber da tat die Kuh den ersten Schritt. Sie war einfach
irgendwohin unterwegs, und plötzlich standen ihr eine Filmcrew im allgemeinen und
eine dumme Frau im besonderen im Weg. Deshalb ging sie einfach langsam weiter –
und trat Vera auf den nackten Fuß. Da Vera (im Film) gerade entführt worden war,
trug sie keine Schuhe.
Obwohl es sehr weh
tat, hatte Vera solche Angst vor religiösen Fanatikern, daß sie die Kuh, die ihre
feuchte Nase jetzt an ihre Brust drückte, nicht anzuschreien wagte. Vera war nicht
nur wegen des feuchten Wetters, sondern auch vor lauter Angst und Schmerz schweißgebadet.
Vielleicht lag es nur an dem Salz auf ihrer hellen Haut, vielleicht auch an ihrem
einladenden Duft – denn Vera roch ohne Zweifel ungleich besser als die anderen Bewohner
der Sophia Zuber Road –, jedenfalls leckte die Kuh sie in diesem Augenblick ab.
Die Länge der Zunge und ihre rauhe Oberfläche waren für Vera so ungewohnt, daß sie
in Ohnmacht fiel, als ihr die Kuh heftig ins Gesicht nieste. Daraufhin beugte sich
die Kuh über sie und leckte ihr Brust und Schultern ab.
Was dann geschah,
hat niemand genau beobachtet. Esherrschte sichtliche Bestürzung und Besorgnis um
Miss Roses [179] Wohlergehen, und ein paar Zuschauer, die empört waren über das, was
sie sahen, gerieten in Aufruhr; dabei waren sie gar nicht sicher, was sie eigentlich
sahen. Nur Vera sollte später zu der Erkenntnis gelangen, daß die Krawallmacher
wegen der heiligen Kuh Krawall geschlagen hatten. Neville Eden und Subodh Rai fragten
sich insgeheim, ob Vera ohnmächtig geworden war, weil sie ihr erotisches Getändel
bemerkt hatte.
Bis sich die Daruwallas
zu dem Campingbus durchgefragt hatten, der als Miss Roses Garderobe und als Erste-Hilfe-Station
diente, hatte der muslimische Inhaber eines bidi -Ladens auf der ganzen Sophia Zuber
Road die Nachricht verbreitet, daß eine blonde amerikanische Filmdiva, nackt bis
zur Taille, eine Kuh abgeleckt und dadurch flächendeckende Krawalle unter der empfindsamen
Hindu-Bevölkerung ausgelöst habe. Dabei war ein solcher Mutwille unnötig; Krawalle
bedurften keiner Ursachen. Falls dieser eine Ursache hatte, dann wahrscheinlich
die, daß zu viele Leute in den Filmslum einziehen wollten und ungeduldig wurden,
weil sie warten mußten, bis der Film abgedreht war. Sie wollten sich auf der Stelle
in dem Slum einquartieren. Aber Vera würde sich stets einbilden, daß alles nur ihret-
und der Kuh wegen passiert war.
Mitten in diesem
Tohuwabohu traf die Familie Daruwalla ein, um die peinlicherweise schwangere Miss
Rose zu retten. Ihre Gemütsverfassung hatte sich durch die Begegnung mit der Kuh
nicht gerade
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