Zirkuskind
Voraussetzungen
im Hause Daruwalla – vielleicht lag es an der Musik, die Meher spielte, oder an
den ständigen Putzgeräuschen, die die diversen Dienstboten machten – hatte der alte
Dr. Tata einfach angenommen, daß Veras Baby einen ungewöhnlich kräftigen und lebhaften
Herzschlag hatte. Mehr als einmal sagte er zu Vera: »Ich glaube, Ihr Baby macht
gerade Turnübungen.«
»Das hätte ich Ihnen
auch sagen können«, antwortete Vera jedesmal.
Und so kam es, daß
erst beim Einsetzen der Wehen der Wehenschreiber den doppelten Herzschlag verriet.
»Sie Glückliche!« sagte Dr. Tata zu Vera Rose. »Sie bekommen nicht nur eines, sondern
zwei!«
[193] Ein Talent, Leute zu beleidigen
Im Sommer
1949, als der Monsunregen ganz Bombay aufweichte, lastete das zuvor erwähnte Melodram,
schwer und unsichtbar, auf der Zukunft des jungen Farrokh Daruwalla – wie ein Nebel,
so weit draußen auf dem Indischen Ozean, daß er das Arabische Meer noch nicht erreicht
hatte. Farrokh war wieder nach Wien zurückgekehrt, wo er und Jamshed den Schwestern
Zilk weiterhin beharrlich und geziemend den Hof machten, als er die Neuigkeit erfuhr.
»Nicht einer, sondern
zwei!« Und Vera nahm nur einen mit.
In Farrokhs und
Jamsheds Augen waren ihre Eltern bereits ältere Herrschaften. Selbst Lowji und Meher
hätten zugegeben, daß die Zeit, in der sie tatkräftig Kinder großgezogen hatten,
hinter ihnen lag. Sie gaben sich die größte Mühe mit dem kleinen Jungen, doch nachdem
Jamshed Josefine Zilk geheiratet hatte, erschien es sinnvoll, dem jungen Paar die
Verantwortung für ihn zu überlassen. Es war ohnehin eine gemischtrassige Ehe, und
Zürich, wo sie sich niederlassen wollten, war eine Weltstadt – ein dunkelhaariger,
von weißen Eltern abstammender Junge würde dort ohne weiteres hinpassen. Inzwischen
konnte der Junge außer Englisch auch Hindi; in Zürich würde er Deutsch lernen, obwohl
Jamshed und Josefine ihn auf eine englische Schule schicken wollten. Nach einiger
Zeit wurden die alten Daruwallas für den Jungen so etwas wie Großeltern, wenngleich
Lowji ihn von Anfang an rechtmäßig adoptiert hatte.
Als Jamshed und
Josefine selbst Kinder hatten – und der verwaiste Zwilling in die Pubertät kam,
die wohl oder übel eine mißmutige Entfremdung von der ganzen Familie mit sich brachte,
war es nur natürlich, daß Farrokh für den Jungen zu einer Art älterem Bruder wurde.
Und wegen des Altersunterschieds von zwanzig Jahren wurde Farrokh für ihn gleichzeitig [194] so etwas wie ein zweiter Vater. Farrokh war inzwischen mit der ehemaligen Julia
Zilk verheiratet und hatte selbst Kinder. Wo immer sich der adoptierte Junge befand,
schien er sich zugehörig zu fühlen; doch bei Farrokh und Julia war er am liebsten.
Man braucht den
von Vera im Stich gelassenen Jungen nicht zu bemitleiden. Er war immer Teil einer
großen Familie, auch wenn es in seinem Leben gewaltige geographische Veränderungen
– zwischen Toronto, Zürich und Bombay – gab und sich schon früh eine gewisse Distanziertheit
bei ihm bemerkbar machte. Später hatte seine Sprechweise – egal ob in Deutsch, Englisch
oder Hindi – ohne Zweifel etwas Eigentümliches an sich, auch wenn es nicht unbedingt
eine Sprachhemmung war. Er sprach sehr langsam, so als würde er in Gedanken einen
schriftlichen Satz mit Satzzeichen und allem Drum und Dran konstruieren. Falls er
einen Akzent hatte, war dieser nicht einzuordnen; auffallend war eher seine überdeutliche
Aussprache, die sich anhörte, als würde er normalerweise mit kleinen Kindern oder
zu einer Menschenmenge sprechen.
Die Frage, die natürlich
alle interessierte, nämlich ob er der Sprößling von Neville Eden oder von Danny
Mills war, ließ sich nicht ohne weiteres klären. In den medizinischen Unterlagen
des damaligen Filmteams – dem einzigen bis heute erhaltenen Nachweis dafür, daß
der Film Eines
Tages fahren wir nach Indien, Liebling je gedreht wurde – war eindeutig vermerkt, daß Neville und Danny
dieselbe Blutgruppe hatten, die später bei den Zwillingen festgestellt wurde.
Einige Mitglieder
der Familie Daruwalla waren der Ansicht, daß ihr Zwilling so gut aussah und eine
so große Abneigung gegen harte Getränke hatte, daß er unmöglich Dannys Sohn sein
konnte. Zudem zeigte der Junge wenig Interesse am Lesen und noch weniger am Schreiben
– er führte nicht einmal ein Tagebuch –, während er sich bereits in der Mittelschule
als [195] ziemlich begabter und äußerst disziplinierter
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