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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Schauspieler erwies. (Dieses
Talent deutete auf den verstorbenen Neville hin.)
    Aber natürlich wußten
die Daruwallas wenig über den anderen Zwilling. Falls man unbedingt mit einem der
Zwillingsbrüder Mitleid haben will, dann vielleicht eher mit dem Kind, das Vera
behalten hatte.
    Bei dem in Indien
zurückgelassenen kleinen Jungen stellte sich in den ersten Lebenstagen die Frage
nach dem Namen. Er würde ein Daruwalla sein, doch mit Rücksicht auf seine schneeweiße
Abstammung war man sich einig, daß er einen englischen Vornamen erhalten sollte.
Gemeinsam beschloß die Familie, ihn John zu nennen, nach keinem Geringeren als Lord
Duckworth persönlich. Sogar Lowji räumte ein, daß der Duckworth Club den Ausgangspunkt
für die Verantwortung darstellte, die er für Veronica Roses im Stich gelassenes
Kind trug. Selbstverständlich wäre niemand so dumm gewesen, den Jungen Duckworth
Daruwalla zu nennen. John Daruwalla hingegen hatte einen angenehmen anglo-indischen
Klang.
    Jeder konnte diesen
Namen mehr oder weniger gut aussprechen. Indern ist der Buchstabe J geläufig, und
nicht einmal Deutschschweizer verunstalten den Namen John allzusehr, obwohl sie
dazu neigen, ihn französisch Jean auszusprechen. Daruwalla wird, wie die meisten Namen, phonetisch ausgesprochen,
auch wenn die Deutschschweizer das W wie V aussprechen, so daß der junge Mann in
Zürich Jean Daruvalla genannt wurde; aber er nahm das ganz gut hin. Sein Schweizer
Paß lautete auf den Namen John Daruwalla – schlicht, aber prägnant.
    Neununddreißig Jahre
lang regte sich in Farrokh kein Funke jenes schöpferischen Impulses, den der alte
Lowji überhaupt nie erleben sollte. Jetzt, fast vierzig Jahre nach der Geburt von
Veras Zwillingen, ertappte sich Farrokh dabei, daß er sich wünschte, er hätte ihn
auch nie erlebt, denn nur durch die Einmischung [196]  seiner Phantasie war aus dem
kleinen John Daruwalla Inspector Dhar geworden, jener Mann, den Bombay inbrünstig
haßte – und Bombay war eine Stadt, in der viel und leidenschaftlich gehaßt wurde.
    Farrokh hatte Inspector
Dhar als satirische Figur konzipiert, als anspruchsvolle satirische Figur. Warum nur waren
so viele Leute so schnell gekränkt? Warum hatten sie so humorlos auf Inspector Dhar
reagiert? Hatten sie keinen Sinn für Humor? Erst jetzt, mit knapp sechzig Jahren,
kam es Farrokh in den Sinn, daß er in dieser Beziehung der Sohn seines Vaters war:
Er hatte ein natürliches Talent bewiesen, die Leute vor den Kopf zu stoßen. Wenn
Lowji als wandelnde Zeitbombe empfunden worden war, warum war Farrokh dann blind
dafür gewesen, daß es sich mit Inspector Dhar ebenso verhalten könnte? Dabei hatte
er sich eingebildet, so behutsam vorgegangen zu sein!
    Er hatte sein erstes
Drehbuch langsam geschrieben und sehr sorgfältig auf Details geachtet. Das war der
Chirurg in ihm; diese Sorgfalt und dieses Bemühen um Authentizität hatte er nicht
von Danny Mills gelernt und erst recht nicht durch den Besuch jener dreistündigen
Vorführungen in den schäbigen Kinopalästen im Zentrum von Bombay – jenen Art-déco-Ruinen,
deren Klimaanlage sich stets »in Reparatur« befand und deren Toiletten häufig überliefen.
    Gründlicher als
die Filme sah sich Farrokh die vor sich hinknabbernden Zuschauer an. In den fünfziger
und sechziger Jahren funktionierte das masala -Rezept – nicht nur in Bombay, sondern
im gesamten Süden und Südosten Asiens, im Nahen Osten und sogar in der Sowjetunion.
Dabei handelte es sich um eine Mischung aus Mord und Musik, rührseligen, mit Slapstick
durchwirkten Geschichten, gewaltsamer Zerstörung, gepaart mit gefühlsduseliger Sentimentalität
– und vor allem befriedigender Gewalt, die immer dann einsetzt, wenn die Mächte
des Guten auf die Mächte des Bösen treffen und sie [197]  bestrafen. Auch Götter gab
es; sie halfen den Helden. Aber Dr. Daruwalla glaubte nicht an die herkömmlichen
Götter. Kurz bevor er zu schreiben begann, war er zum Christentum übergetreten.
Er fügte dem Hindi-Mischmasch, aus dem das Bombayer Kino bestand, Dhars ruppige,
meist über die Szene gelegte Stimme und sein höhnisches, so gar nicht zu einem Helden
passendes Lächeln hinzu. Das soeben entdeckte Christentum ließ der Doktor wohlweislich
aus dem Spiel.
    Er hatte Danny Mills’
Empfehlungen haarklein befolgt. Er suchte sich einen Regisseur aus, der ihm zusagte.
Balraj Gupta war ein junger Mann mit weniger rigiden Vorstellungen als die meisten
– er hatte fast einen selbstironischen

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