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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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der Ausgang? Als der Doktor den Flur seiner Wohnung
betrat, in der sich keine dunkelhäutigen, weißgeschminkten Frauen in rosa Tutus
aufhielten, brachte ihn die deutliche, aber ferne Stimme seiner Frau dazu stehenzubleiben.
Julias Stimme drang vom Balkon, wo sie Inspector Dhar mit seiner Lieblingsaussicht
auf den Marine Drive verwöhnte, bis zu ihm herein. Gelegentlich schlief Dhar auf
diesem Balkon, entweder wenn er so lange blieb, daß er lieber hier übernachtete,
oder wenn er gerade in Bombay angekommen war und sich erst wieder mit den Gerüchen
der Stadt vertraut machen mußte.
    Dhar schwor, daß
dies das Geheimnis seiner erfolgreichen, blitzschnellen Anpassung an Indien sei.
Er konnte aus Europa kommen, direkt aus der frischen Schweizer Luft – die in Zürich
mit Restaurantdünsten und Auspuffgasen, mit verbrannter Kohle und einem Hauch von
Faulschlammgasen verpestet war –, und doch behauptete er, nach nur zwei bis drei
Tagen in Bombay würden ihm weder der Smog noch die zwei oder drei Millionen kleiner
Feuerstellen etwas ausmachen, auf denen in den Slums Essen gekocht wurde, noch der
süßliche Verwesungsgeruch von Abfällen, noch der schaurige Gestank der Exkremente
jener vier oder fünf Millionen Menschen, die sich tagtäglich an den Rinnstein hockten
oder ans Meeresufer, das weite Teile der Stadt umgab. Denn in dieser Stadt mit ihren
neun Millionen Einwohnern [218]  war die Luft garantiert von der Scheiße der halben
Einwohnerschaft erfüllt. Dr. Daruwalla brauchte jedesmal zwei oder drei Wochen,
um sich an den penetranten Gestank zu gewöhnen.
    Im Flur, der in
erster Linie nach Schimmel roch, streifte der Doktor in Ruhe seine Sandalen von
den Füßen und stellte seinen Aktenkoffer und die alte dunkelbraune Arzttasche ab.
Er bemerkte, daß die Schirme im Schirmständer staubig waren, weil sie nicht benutzt
wurden; drei Monate waren seit dem Ende des Monsuns vergangen. Obwohl die Küchentür
geschlossen war, roch er den Hammel und das dhal – aha, das gibt es also wieder,
dachte er –, aber die Essensgerüche konnten ihn nicht von den wehmütigen Erinnerungen
ablenken, die ihn überfielen, wann immer seine Frau deutsch sprach, was sie stets
tat, wenn sie mit Dhar allein war.
    Farrokh stand da
und lauschte der österreichischen Färbung von Julias Deutsch, und in Gedanken sah
er sie vor sich, wie sie achtzehn oder neunzehn war und er ihr in dem alten, gelb
angestrichenen Haus ihrer Mutter in Grinzing den Hof gemacht hatte. Das Haus war
vollgestopft mit Biedermeier. Neben dem Garderobenständer im Flur stand eine Büste
von Franz Grillparzer. Das Werk eines Porträtmalers, der sich geradezu zwanghaft
auf unschuldige Kindergesichter spezialisiert hatte, dominierte den Salon, der mit
noch mehr Niedlichkeiten wie etwa Porzellanvögeln und silbernen Antilopen angefüllt
war. Farrokh erinnerte sich an den Nachmittag, an dem er bei einer fahrigen Bewegung
mit der Zuckerdose einen bemalten, gläsernen Lampenschirm zerbrochen hatte.
    Zwei Uhren gab es
in diesem Raum. Die eine spielte jeweils zur halben Stunde ein paar Takte aus einem
Walzer von Lanner und zu jeder vollen Stunde ein etwas längeres Stück aus einem
Strauß-Walzer; die zweite huldigte auf ähnliche Weise Beethoven und Schubert – verständlicherweise
hinkte sie eine ganze Minute hinter der anderen her. Farrokh erinnerte sich, daß
erst [219]  Strauß und dann Schubert erklang, während Julia und ihre Mutter die Scherben
des Lampenschirms zusammenkehrten.
    Sooft er sich ihre
zahlreichen gemeinsamen Teestunden ins Gedächtnis rief, sah er seine Frau als junges
Mädchen vor sich. Julia war stets auf eine Art gekleidet, die Lady Duckworth bewundert
hätte. Sie trug eine cremefarbene Bluse mit volantbesetzten Ärmeln und einem hochgeschlossenen
Rüschenkragen. Sie unterhielten sich auf Deutsch, weil das Englisch ihrer Mutter
nicht so gut war wie Farrokhs und Julias. Inzwischen sprachen die Daruwallas nur
noch selten deutsch. Es war noch immer die Sprache, in der sie sich liebten und
im Dunkeln unterhielten. Es war die Sprache, in der Julia zu ihm gesagt hatte: »Ich
finde dich sehr attraktiv.« Obwohl er sie bereits zwei Jahre umworben hatte, fand
er das so vorwitzig, daß es ihm die Sprache verschlug. Er kämpfte mit sich, wie
er die heikle Frage formulieren sollte – ob seine dunklere Hautfarbe sie störe –,
als sie hinzufügte: »Vor allem deine Haut. Deine Hautfarbe im Kontrast zu meiner,
das sieht sehr reizvoll aus.«
    Wenn Leute

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