Zitadelle des Wächters
aus der Ersten Zeit mit der größtmöglichen Authentizität aufgeführt wurden, die untergehende Sonne, die mit ihren letzten Lichtstrahlen den weißen Sand der Strände in der Unterstadt umspielte, und das sanfte Brechen der Wellen des G’rdellianischen Meers. Tessa ließ alle diese Eindrücke auf sich wirken, und sie verliebte sich in diese zauberhafte Stadt am Meer. Sie konnte es sich kaum vorstellen, diesen Ort jemals freiwillig zu verlassen. Aber in ihr steckte noch ein anderer Teil ihres Wesens, der sich mehr auf den Mann konzentrierte, der ihr all diese Wunder und prachtvollen Dinge nahebrachte. Der Gedanke daran, ihn zu verlieren, war ihr so unangenehm, daß er ihr schon fast wieder gefährlich wurde. Eine große Welt wartete darauf, von Tessa gesehen, gefühlt, geschmeckt und gerochen zu werden. Das wollte sie keinesfalls allein tun, denn sie war eine so entsetzlich lange Zeit allein gewesen.
Andere Gefühle strömten in Varians Bewußtsein. Auch er war lange Zeit allein gewesen, aber in einem anderen Sinn, als dies für Tessa galt. Varian hatte sich aus freien Stücken zu einem Leben in Einsamkeit entschlossen. Anscheinend brauchte er die Freiheit, für andere die Verantwortung zu tragen, damit er mehr über sich selbst erfahren konnte. Natürlich war er bereits auf jedem bekannten Schiffstyp gefahren, kannte jeden Hafen am Aridard und war fortwährend von Mannschaften aus rauhen, erfahrenen Seeleuten umgeben gewesen.
Aber als genauso wahr konnte gelten, daß Varian sich in der Menge einsam fühlte.
Er hatte nie die Zeit und die Mühe auf sich genommen, seine Kameraden näher kennenzulernen, in all den Jahren nicht. Der einzige Freund, den Varian je gehabt hatte, war der alte Furioso gewesen, und diese Beziehung war eher aus einer Unvermeidlichkeit erwachsen als aus einem echten Bedürfnis. Varian und der alte Mann hatten sich mit der Zeit einfach an die Gesellschaft des anderen gewöhnt.
Die Frauen kamen in Varians Leben nur als eine endlose Reihe von kurzen Verbindungen vor. Ihre Gesichter und ihre Körper existierten in Varians Erinnerung nur noch als blasse Gebilde, und er konnte sich gerade noch an den einen oder anderen Namen erinnern. Nicht etwa, daß Varian die Frauen nur benutzt hätte – jedenfalls war ihm das nicht bewußt geworden –, vielmehr schienen sie ihn benutzt zu haben. Nie war in diesen Verbindungen das Wort Liebe gefallen (außer in der schwitzigen, triebhaften, nächtlichen Begierde, „es“ zu machen), bei keiner der Frauen. Immer war es so gewesen, daß beide, sowohl die Frauen als auch Varian, gewußt zu haben schienen, daß sie bald auf verschiedenen Schiffen weitersegeln und sich wahrscheinlich nie wiedersehen würden.
Wenn Varian sich die Zeit nahm, an diese Beziehungen zurückzudenken, konnte er sie deshalb immer rational erklären: Er hatte eben einfach nie die erforderliche Zeit opfern können, um jemanden wirklich kennenzulernen – ihm war es wichtiger, die Zeit erst einmal damit zu verbringen, sich selbst kennenzulernen.
Aber bei Tessa war alles – anders? – ja, genau, anders. Zwei Tage verbrachte er mit ihr in Eleusynnia. Zwei volle Tage, jede Stunde jeden Tages. Und jeder Nacht. Trotzdem fehlte dabei die vertraute Begierde, das Anschwellen der körperlichen Lust, die regelmäßig den Verstand zu überdecken schien. Und es fehlte die unausgesprochene Zustimmung von beiden Seiten, im Dunkeln nur die körperlichen Teile rasch zu vereinen und die Seelen abseits stehen zu lassen.
Nein, mit Tessa konnte Varian sich über sehr viele Dinge unterhalten. Er fragte sie über sich, er erzählte von seinem
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