Zitadelle des Wächters
beschränkten Angebot der Schiffsvorräte. Eine wohlgenährte Mannschaft ist eine zufriedene Mannschaft – eine ganz und gar grundlegende Lebensweisheit.
Die Reise nach Westen brachte Tessa viele neue Erkenntnisse, und sie verbrachte viele Stunden zusammen mit Varian auf dem Deck. D›ort lernte sie viel über die Kunst, ein Handelsschiff zu steuern. Aber wenn Varian auf Freiwache war, verbrachte er die meiste Zeit allein. Nicht etwa, daß er Tessa bewußt ignorierte – er hielt sie für ausgesprochen attraktiv, intelligent und sie gab ihm viel –, aber zugleich wuchs sein Interesse an einer Kiste voller Texte und Manuskripte, die er aus Eleusynnia mit an Bord genommen hatte.
Jede Nacht saß er in seiner Kajüte und suchte nach irgendwelchen Verbindungsstücken, die die losen Enden von Kartaphilos Geschichte zusammenführen konnten. Es gab so viele Orte, an denen Sand lag, und so wenige Hinweise auf die Riken oder die Genonesen. Die Erste Zeit schien eine Welt zu sein, die von Legenden, Märchen und offensichtlich falschen Darstellungen überschwemmt war. Irgendwo im Lauf der Entwicklung war der Beruf des Historikers zu dem eines Märchenerzählers verdreht worden, eines Unterhaltungskünstlers, der die Menschen beim Schein des Lagerfeuers die Kälte der Nacht vergessen ließ.
Er grübelte darüber nach, Tessa in seine Suche einzuweihen und sie daran teilhaben zu lassen. Keineswegs mißtraute er ihr, aber er fürchtete, sie würde ihm keinen Glauben schenken. Offensichtlich verstand sie ohnehin nicht sein Bedürfnis nach Abgeschiedenheit, wenn er seine Freiwache hatte. Und Varian stellte sich vor, daß sie sich sicher fragte, warum er sie nicht mehr beachtete, sich nicht mehr um sie kümmerte.
Aber da gab es noch viele andere Dinge, die ihre Gedanken beschäftigten und anregten. Die Fahrt durch die Straße von Nsin war so mysteriös und von Nebel begleitet wie immer. Und Tessa war ganz hingerissen von den sich hoch auftürmenden weißen Klippen am südlichen Ufer der Straße, wo die großen Kanonen von Kell immer noch undeutlich als Überbleibsel der Macht der Vergangenheit aufragten … Die Lichter des Voluspa-Leuchtturms direkt vor der Küste der Philosophenstadt führten die Courtesan sicher ins offene Wasser, wo man anhand der Karten und Meßinstrumente weitersegelte, bis die Küstenlinie der Insel Gnarra gesichtet wurde. Tessa wollte gern die Hafenstadt Cybele besichtigen und die dort lebende Bevölkerung kennenlernen, die sich, wie sie gehört hatte, aus Hexern zusammensetzen sollte. Varian amüsierte sich darüber. Tessa sah Cybele als eine Stadt an, in deren Straßen Magier und Zauberer wie Ratten in einer Wirtshauskanalisation herumtollten.
Außerdem hatte eine kurze Begegnung mit einer Seeräuber-Bande aus Behistar stattgefunden – eine kleine, aber schnelle Fregatte, die die Stärke der Courtesan- Kanonen ausprobieren wollte. Das war auch der letzte Angriff des kleinen schwarzen Schiffes gewesen.
Jetzt näherte man sich dem Hafen von Ques’Ryad. Die Stadt verfügte über eine doppelt so große Hafenanlage wie alle anderen Städte am Aridard und war ein wucherndes Zentrum des Handels, des Abenteuers und der kulturellen Begegnung. Der Hafen war von Schiffen aller Art überfüllt. Die Flaggen fast aller Nationen knatterten in der Meeresbrise. Die Docks waren überschwemmt von Menschen und exotischen Frachten aus allen Gegenden der Welt: gedörrtes Fleisch aus Shudrapur, Häute und Felle von den Trappern aus dem Gebiet nördlich des Scorpinnianischen Kaiserreiches, Diamanten aus den Minen von Kahisma, Wandteppiche und
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