Zitadelle des Wächters
Silberpelz warf den Kopf zurück und lachte. „Nein, versteht ihr, klar, die Biester sind groß und schnell und haben immer Hunger, aber gleichzeitig sind sie gottserbärmlich dumm! Die kann man mit Tricks bluffen, auf die nicht mal eine Hängeklaue hereinfallen würde. Tatsächlich habe ich eines dieser großen Biester in einer selbstgebauten Falle gefangen und seinen Kopf einem König im Norden von Scorpinnian gebracht. Er nannte sich selbst wirklich und wahrhaftig Richard III. Ein komischer kleiner Bursche war das, mit einem gelähmten Arm, aber gemeingefährlich wie eine Katze! Hab’ ihm den Schädel von dem Riesenbiest vor die Füße gelegt und bin wieder abgezogen. Das war damals, als Raim und ich bei einer Expedition ins Sonnenlose Meer zusammenkamen. The Pequod hieß unser Schiff – hat schon mal wer davon gehört? Nein, schätze, das habt ihr nicht; war jedenfalls ’n schmucker Kasten. Der Kapitän war ein Wahnsinniger namens Ahab. Raim legte sich mit einem der Kanoniere an Bord an – ein Riese, von oben bis unten tätowiert, sein Name ist ja egal –, und die beiden haben sich gegenseitig ’n paar neue Bilderchen in die Haut gestanzt, nicht wahr, mein Freund?“
Wieder lachte der Alte und bedeutete dem kleinen, dunklen Raim, die Messerstiche auf seiner dunklen Brust zu zeigen. Nach einer anerkennenden Runde von Ooohs und Aaahs fuhr der alte Mann mit seiner Geschichte fort: eine nicht enden wollende, ausgelassene Räuberpistole zur See. Varian hörte gespannt zu, obwohl er ja selbst zur See gefahren war.
Varian hörte schon seit Jahren solche Seemannsgarn-Geschichten. Nur wenn man nicht um die Welt segelte oder häufiger die Wasserlöcher freundlicher Nomaden aufsuchte, blieb man von solchen Geschichten verschont. Aber bei diesem Mann hier war alles etwas anders – seine Vortragskunst, sein Erzählstil und vor allem seine ganze Erscheinung. Er sah wirklich so aus, als hätte er all das erlebt, wovon er erzählte. Varians offenes Auge für Details bemerkte wohl die schweren, schwieligen Hände, die Charakterzüge in seinem Gesicht, die jungen, lebhaften Augen und die großen Muskelpakete an Schultern und Nacken. Dieser Alte war ein Mann der Tat und der Erfahrung. Sein Talent zum Erzählen war nur eine farbige, zusätzliche Eigenschaft, ein weiterer Anziehungspunkt.
„Was ist los?“ fragte Tessa und streckte die Hand aus, um Varians Ärmel zu berühren.
„Och, gar nichts. Ich habe nur den Alten beobachtet und ihm etwas zugehört …“
Tessa lachte und trank aus ihrem Glas. „Du glaubst das doch nicht etwa, oder?“
„Nein, nicht alles. Ich glaube nie alles, egal wer mir was erzählt.“
„Aber manche Sachen doch, oder?“
„Natürlich.“ Varian zeigte auf den alten Mann. „Sieh ihn dir nur mal an. Ich meine, sieh ihn dir mal richtig an. Er ist kein Aufschneider. Er ist wirklich dort gewesen – wo immer das auch gewesen sein mag. Wirkt er nicht wie Ques’Ryad selbst? Ihn umgibt der Geruch und die Ausstrahlung des Abenteuers – und auch der Gefahr.“
„Varian, langsam meine ich, du glaubst ihm doch!“ Tessa lächelte ihn provozierend und vorwurfsvoll an.
„Er ist eine interessante Persönlichkeit, das kannst du nicht abstreiten“, sagte Varian und sah wieder zu dem Tisch hinüber, wo die Geschichte fortgesetzt wurde.
„… manche behaupten, es seien Golems gewesen, aber höchstwahrscheinlich waren es gar keine lebendigen Wesen“, sagte der Alte gerade. Seine Augen glitten unheilvoll in ihren Höhlen vor und zurück. „Bei allem, was mir heilig ist, es waren Roboter!“
Jemand in der Menge lachte los, und rasch folgten das schallende Gröhlen und die zweifelnden Äußerungen der anderen. Varian dagegen spürte, wie sich alles
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