Zitadelle des Wächters
Sie waren einfach weg.
Obwohl Raim nie sprach – er konnte ja nicht sprechen –, besaß er doch einen lebhaften Verstand und ein ebensolches Auffassungsvermögen. An vielen Abenden auf ihrer Reise hatte er die anderen mit seinem Talent für Pantomine, Verkörperung anderer Personen und der Musik seines flötenartigen Instruments unterhalten, welches unter dem Namen Arthis bekannt war. Sie verlangte vom Spieler eine elegante Gewandtheit seiner Finger und daneben die Beherrschung der Atmung und der Lippenbewegungen. Die Zunge mußte heruntergepreßt werden, um annehmbare Töne zu erzeugen – und da man Raim die Zunge herausgeschnitten hatte, war er besonders für die Arthis geeignet.
Der Abend war schon weit fortgeschritten, die Mahlzeit beendet, und die anderen hatten gute Nacht gesagt und waren zu Bett gegangen. Der Roboter war vorbeigekommen, war genauso arrogant und gleichzeitig zuvorkommend wie immer, sprach aber Raim nicht an. Der kleine, muskulöse Mann fühlte eine Unruhe in sich, und da er doch nicht einschlafen konnte, beschloß er, einen Spaziergang durch die verschiedenen Etagen der Zitadelle zu machen.
In den untersten Stockwerken angekommen, hörte er plötzlich das Summen von Maschinen aus allen Richtungen auf ihn einströmen – ihr Zweck lag weit über dem, was er begreifen konnte, und deshalb achtete er gar nicht weiter auf sie. Am Rande eines Laufgangs, der zwei riesige Generatoren miteinander verband, hielt Raim an, um sich einen Moment auszuruhen. Er holte seine Arthis hervor und begann zu blasen. Die Musik übertönte das Summen der Maschinen, schien sich immer weiter auszudehnen und warf schließlich Echos durch den ganzen riesigen Saal. Dieser akkustische Effekt klang so angenehm, daß Raim versucht wurde, lauter zu spielen.
Raim hatte ein besonderes Verhältnis zur Musik. Immerhin war sie die einzige Art von Klängen, die er erzeugen konnte, und er pflegte seine Begabung auf der Arthis. Musik war seine Möglichkeit, seine Gedanken und Gefühle auszudrücken. Er ließ seine Seele in das kleine Instrument einfließen und erwärmte sich an den teilnahmsvollen Klängen.
Während er so spielte, erschien ihm die dunkle Vision.
Aus dem Schatten der schweren Maschinen erwuchs eine große, verschwommene Gestalt. Sie war schwärzer als Schwarz und außerdem so substanzlos wie wirbelnder Rauch. Ihr Gesicht war wegen der tief heruntergezogenen Kapuze und des schweren Mantels, der die ganze Gestalt bedeckte und wie flüssig wirkte, kaum zu erkennen.
Die sanften Klänge der walzerähnlichen Melodie erstarben in Raims Kehle, als er aufsah und dieses Alptraumwesen entdeckte, das bedrohlich über ihm aufragte. In Sekundenbruchteilen war er aufgesprungen und hatte sein Kurzschwert gezogen. Aber wie erstarrt stand er da, als das Wesen ihn ansprach.
„Deine Waffe kann mir nichts antun … also schweige und höre zu.“
Wer bist du? schrie Raim in Gedanken.
Und das Wesen schien ihn zu verstehen. „Ich heiße Pluto“, sagte es. Die Stimme besaß eine unbestimmbare Resonanz, war tief und gewaltig.
Was willst du von mir?
„Du spielst sehr schön, Raim.“
Was willst du? Raim dachte gar nicht daran, das Schwert wegzustecken. Er hielt es immer noch ausgestreckt, bereit, sich bei einem Angriff sofort zu verteidigen.
„Der Klang deiner Musik ist so süß wie einst Marise war.“
Der Name seiner vor Jahren verstorbenen Frau durchbohrte Raim wie die Spitze eines Schwerts. Seine Arme sanken herab, als die Erinnerungen durch seinen Kopf strömten: eine zierliche, dunkeläugige Frau, eine Stimme wie die einer Nachtigall, die raschen, flatterhaften Gesten und
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