Zitadelle des Wächters
Bewegungen eines zerbrechlichen Vögelchens, das genaue Gegenstück zu Raims rauher Lebensart, der exakte Gegensatz zu ihm. Er hatte sie so innig geliebt, daß seit ihrem schrecklichen Tod vor so vielen Jahren keine Frau mehr sein Herz gewinnen konnte.
Aber woher wußte dieses Wesen von Marise?
Er dachte an seine junge Braut und an den Angriff auf Maaradin, daran, wie die Burg zeitweise im Besitz des Feindes war, wie Marise vom Ansturm der Invasoren überrascht worden war, an den Moment, als er ihren zerschmetterten, leblosen Körper auf dem staubigen, verlassenen Schlachtfeld gefunden und sich auf ihre Mörder gestürzt hatte, nur mit dem einzigen Gedanken im Kopf, sie im Tode zu begleiten.
„Ich kenne Marise, Musiker. Ich bin ihr Herrscher.“
Raim erschauderte, als er in die Falten der Kapuze dieser Gestalt starrte, sie durchbohrte, um im Schatten die Spur von Zügen zu entdecken. Das konnte nicht der Tod sein, dem er da begegnet war. Ein solches Wesen, eine solche Entität, existierte nicht, außer in den Köpfen der Menschen.
„Ich bin ziemlich real. Und ich biete dir deine Marise an.“
Marise! Marise! Der Gedanke daran, sie wiederzusehen, überflutete ihn mit einem ungeordneten, irrationalen Gefühlsstrom, einer Mischung aus Panik und ununterdrückbarer Freude. Aller Verstand, alle Rationalität entschwanden vor diesem Gefühlssturm.
„Du kannst sie haben. Du darfst sie aus dieser Unterwelt des Todes und der ewigen Finsternis führen …“
Wie?! Sag mir, was ich tun muß! Wo ist sie?
„Du wirst diesem Elmsfeuer folgen“, sagte das Wesen, und ein Irrlicht erschien. Es tanzte vor der Gestalt auf und ab. „Und du wirst dein Instrument so blasen, wie du das noch nie zuvor getan hast.“
Wie bitte?
„Um in die Welt der Toten eindringen zu können, mußt du die dortigen Wächter und Bewohner bezaubern, sonst wirst du niemals zurückkehren können. Du folgst dem Irrlicht, bist du sie gefunden hast – und die ganze Zeit über mußt du spielen.“
Das will ich tun! Ich tue alles›was du sagst! Sein Herz schlug wie ein Schmiedehammer und drohte, seine Brust zu zersprengen. Er kam sich vor wie ein Reh in einem brennenden Wald, und er war bereit, blindlings auf die Erfüllung seiner Wünsche loszurennen.
„Und es gibt noch mehr zu tun. Du darfst nicht aufhören zu spielen. Du darfst nicht mit ihr sprechen, bis du hierher zurückgekehrt bist, bis du meine Welt verlassen hast. Und ein Letztes: Sobald du die Rückreise von der Unterwelt angetreten hast, darfst du dich nicht mehr nach ihr umsehen. Du darfst nicht zurückblicken, bis du hier eingetroffen bist. Verstanden?“
Raim nickte und beobachtete das Irrlicht, wie es durch einen dunklen, stählernen Tunnel hinabglitt, der jetzt eher wie die aus dem Fels geschnittenen, glasierten Wände einer Höhle wirkte.
Die Reise führte ihn in die absolute Dunkelheit. Die Kapuzengestalt war wie der Rauch verschwunden, der sie zu sein schien. Die Gänge der Zitadelle verwandelten sich in kahle, abwärts geneigte Tunnels, die im matten Schein des Irrlichts wie der unbegrenzte Schlund eines Raubtieres aussahen. Raims Musik hallte von überall wider – wie ein wunderbarer Angreifer störte sie die Stille.
Er kam an einem gefährlichen Untier vorbei, das sich beim näheren Hinsehen als Wolf entpuppte, dessen äußerst kraftvoller, sehniger Körper von einer massiven Kette an einem Felsen festgehalten wurde. Aus seinem Hals wuchsen drei Köpfe, und alle drei starrten ihn an. Drei Augenpaare brannten auf ihm, drei zahnbewehrte Mäuler geiferten und ließen damit ihr Vorhaben erkennen, dem Musiker das Fleisch von den Rippen zu reißen. Aber Raim erinnerte sich an die Worte dieses Pluto und
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