Zitadelle des Wächters
rauhe Wirklichkeit etwas auf, reichte aber nicht aus, um ihren aufgewühlten Verstand zu beruhigen. Zum erstenmal seit ihrer Ankunft, ihrer Gefangensetzung, begriff Tessa, wie fremdartig, wie völlig anders die Zitadelle und der Wächter im Vergleich zu dem waren, was sie bisher in ihrer Welt gesehen hatte. Sie fragte sich, ob es nicht vielleicht besser wäre, dieser Ort wäre verschüttet und vergessen und würde nie von jemandem aus der heutigen Welt entdeckt. Wer immer auch die Erbauer der Zitadelle gewesen waren, dachte Tessa, es mußte eine fremdartige Rasse gewesen sein, eine längst ausgestorbene Nebenlinie von Fremdwesen. Mehr als ein Jahrtausend, glaubte Tessa, trennte ihre eigene Rasse von diesen anderen.
Ihre Augen kehrten zu der kunstvoll gefertigten Büchse zurück. Sie spürte, wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte. Der einzige fühlbare Beweis ihrer Begegnung, ein Punkt, von dem aus man fortfahren konnte.
Was sollte sie mit der Büchse anfangen? Warum hatte man sie ihr gegeben? Sie wußte, daß die Geschichte von den Göttern und den Brüdern barer Unsinn gewesen war, ganz sicher war dies so. Aber trotz allem blieb die Frage – warum?
Tessa hob die Büchse hoch und bemerkte augenblicklich, wie dieses Gefühl, diese seltsam einladende Wahrnehmung, sie wieder beschlich. Die bloße Berührung der Büchse verlieh ihr ein äußerst angenehmes, unbeschreibliches Gefühl. Sie wollte die Büchse berühren, als sei sie von einer sinnlichen Zuneigung zu diesem Objekt erfaßt worden. Wirklich sehr merkwürdig.
Sie sah auf die verzierten Scharniere und erinnerte sich an die warnende Inschrift: Die Büchse dürfe niemals geöffnet werden. Ganz offensichtlich war diese Inschrift der Schlüssel zu dem Geheimnis und vielleicht auch zu der Büchse selbst, dachte Tessa. Sie dachte darüber nach und kam endlich zu folgendem Schluß: Der Mann, der sich Zeus nannte, wollte von ihr gar nichts anders, als daß sie die Büchse öffnete. Andernfalls wäre bestimmt irgendeine Schutzmaßnahme vorhanden gewesen, ein Schnapp Verschluß oder ein Schloß, etwa um sie verschlossen zu halten. Die Warnung war nur beigefügt worden, um die Sache noch verlockender zu machen.
Und jetzt wußte Tessa auch, was sie zu tun hatte.
Acht
„Dann waren das also gar keine Illusionen“, sagte Stoor zu der versammelten Gruppe.
„Woher willst du das wissen?“ fragte Varian. „Nur wegen der Büchse? Die hätte in der Datenspeicherungsanlage hinterlegt werden können. Und der Rest bliebe dann immer noch Illusion …“
Raim nickte bei dem letzten Wort heftig. Ganz offensichtlich wollte er nicht daran glauben, daß seine Begegnung mit Marise real gewesen war. Seiner geliebten Frau so nahe zu sein, bloß um sie dann zu verlieren, das war mehr, als ein Mensch verkraften konnte.
Tessa schwieg eine Zeitlang. Dann stand sie auf und trat hinter die Stühle der anderen. „Ich weiß auch nicht, was ich davon halten soll … ich bin mir nur dieser einen Sache sicher, daß ich nämlich diese Büchse öffnen sollte.“
Varian nickte. „Oh, das steht außer Frage. Wir sind uns mittlerweile alle darüber im klaren, daß man uns aus unbekannten Gründen dazu bringen wollte, uns auf diese verdammten … Märchen oder wie immer man sie bezeichnen will einzulassen. Aus irgendeinem Grund testet jemand unsere Reaktionen.“
„Jemand …“ sagte Tessa mit nicht zu überhörendem Zweifel. „Nicht jemand … der Wächter! Es kann gar nicht anders sein!“
„Aber warum?“ fragte Varian. „Und was haben diese Märchen zu bedeuten?“
„Und die Büchse?“ fragte Tessa. „Was sollen wir mit ihr anfangen?“
Stoor lachte. „Wir fangen ja bereits etwas
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