Zitadelle des Wächters
bitte?“
„Ich meine, sie gehört dir“, sagte er und trat vom Schreibtisch weg. „Auf Wiedersehen“, sagte er noch, als er sich wie Morgennebel verflüchtigte.
Tessa erschrak vor diesem plötzlichen Zauberwerk oder was auch immer es gewesen war. Sie zögerte einen Moment, bevor sie ängstlich auf die Stelle zutrat, wo der Mann verschwunden war. Sie bemerkte, daß sich die Luft verwirrend warm anfühlte, aber ansonsten war keine Spur von ihm zurückgeblieben.
Bis auf die Büchse.
Sie drehte sich um und studierte sie. Zuerst hütete sich Tessa davor, sie zu berühren. Ihr erster Gedanke ging dahin, die Büchse dort liegen zu lassen, wo sie war, und Varian um Rat zu fragen, eventuell auch den alten Stoor. Vielleicht würden ihre gemeinsamen Anstrengungen herausbringen, was mit der seltsamen Büchse anzufangen war.
Aber dann kam ihr ein neuer Gedanke: Die ganze Sache konnte ja auch eine Illusion gewesen sein, eine Sinnestäuschung oder sogar ein Traum. Obwohl die Büchse real aussah, sogar Substanz zu besitzen schien, konnte sich ja herausstellen, daß dem nicht so war. Zumindest, dachte sie, hatte auch Zeus sehr real gewirkt, obwohl sich später das Gegenteil herausstellte.
Es blieb ihr nur eines übrig: die Büchse anzufassen – und sei es nur aus wissenschaftlichem Forschungsdrang, wie sie sich selbst einredete.
Also streckte Tessa vorsichtig eine Hand aus und strich über die reichgeschmückte Oberfläche. Wie ein Schock traf sie die Erkenntnis, daß die Büchse Substanz besaß, daß sie wirklich vorhanden war. Und dennoch weigerte sich etwas in ihr, an die Echtheit zu glauben.
Dann erwartete sie eine neue Überraschung: Das Berühren dieses Objekts bereitete wirkliches Vergnügen. Es schien so, als würde von den Materialien der Büchse ein hypnotischer Einfluß ausgehen, der dazu stimulierte, die Büchse anzufassen. Sie spürte sogar regelrecht einen Unwillen, ihre Hand wieder von dem entzückend ausgearbeiteten Deckel zu nehmen. Das Muster, so stellte sie beiläufig fest, entsprach dem nicht mehr unvertrauten Fünfeckmotiv.
Plötzlich zog sie die Hand von dem Objekt zurück, als bräche sie einen Bann, der vorher auf ihr gelastet hatte. Was hatte das alles zu bedeuten? Tessa von Prend war kein Mensch, der ohne weiteres jede außergewöhnliche Situation akzeptieren konnte. Es gab, so hatte sie zu begreifen gelernt, viele Wunder der Technik und der verlorengegangenen Wissenschaften aus der Ersten Zeit. Überhaupt war es kaum möglich, wenn nicht sogar ausgeschlossen, viele Arbeitsweisen und Funktionen der Zitadelle anders als mit Magie oder Illusion zu erklären. Wer war das noch gewesen, der gesagt hatte, für den normalen Menschen habe Wissenschaft genausoviel mit Glaube zu tun wie mit Religion? Sie wußte nicht mehr, wer das gewesen war, aber sie wußte, was er damit hatte sagen wollen.
Dieser Mann namens Zeus … Falls er wirklich eine reale Person war, dann gründete sich seine Existenz auf Wissenschaft oder auf Magie. Falls er eine Illusion war, dann war diese von der Zitadelle erzeugt worden – aber was machte das schon aus? Und was hatte es zu bedeuten?
Sie konnte keine Antwort finden, die einen Sinn ergeben hätte. Sie traute Zeus Worten nicht und wünschte, Varian wäre jetzt bei ihr. Sie beide zusammen, dessen war sie gewiß, hätten die Bedeutung dieser Begegnung verstanden. Allein hatte Tessa jedoch Schwierigkeiten, sich zu entscheiden, was sie nun glauben sollte und was richtig war.
Vorsichtig sah sie sich im Raum um und entdeckte nichts außer den glatten, polierten und fugenlosen Konturen der Maschinen, Konsolen und Datenschirme. Die Beleuchtung weichte die
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