Zitadelle des Wächters
bin ich gekommen, um dir ein Geschenk zu machen …“
„Mir? Ein Geschenk?“ Tessa lachte über die Ungereimtheit dieser Vorstellung. Das war wirklich das letzte, was sie von diesem Mann erwartet hätte. Und unverzüglich kehrten ihre Augen zu der Büchse zurück, die er trug.
„Doch zuerst eine Geschichte“, sagte er und ging auf einen Schreibtisch zu, auf dem er sich so lässig wie möglich niederließ.
„Eine Geschichte? Ach ja, davon hast du eben schon gesprochen.“
„Ja, das habe ich. Jetzt hör mir bitte zu, es ist eine Schöpfungsgeschichte. Hast du so etwas schon einmal gehört?“
„Ich habe Sagen gehört. Aber die sind doch der reine Blödsinn …“
Zeus lächelte. „Ja, das sind sie, nicht wahr?“ Er machte eine Kunstpause, um sich ausgiebig am Bart zu kratzen und die Büchse auf den Schreibtisch zu stellen. „Also, es geht los. Vor langer, langer Zeit, als die Welt aus dem Chaos gezogen wurde, lebten zwei Brüder – ihre Namen spielen hier keine Rolle –, die sich stark in Persönlichkeit und Charakter unterschieden. Und dennoch waren beide das, was wir …“ – er suchte nach einem passenden Wort – „… ‚Götter’ nennen.“
„Götter?“ Tessa sah ihn fragend an.
„Ja, du weißt doch, diese mächtigen Wesen, die überall im Universum ihre Finger im Spiel haben – solche Typen eben …“
„Oh … ja, natürlich“, sagte sie ein wenig gönnerhaft.
„Also, in Ordnung. Ich meine, dies ist eine Wirkliche Schöpfungsgeschichte, nicht wahr?“ fragte Zeus.
„Ja, vermutlich hast du recht“, sagte sie. „Dann leg mal los.“
„Gut. Also diese beiden Brüder waren recht unterschiedliche Götter. Bruder Nummer eins war schrecklich weise, vielleicht der weiseste von allen Göttern. Und natürlich war dann Bruder Nummer zwei …“
„… nicht sehr helle, ein Schussel … eben ein echter Problemfall“, sagte Tessa.
„Bist du sicher, daß du die Geschichte noch nicht gehört hast?“
Tessa lächelte. „Nein, aber das war doch eigentlich zu erwarten, oder?“
Zeus zuckte die Achseln. „Sicher hast du recht“, sagte er. „Aber, um weiterzukommen: Beide Brüder hatten großen Anteil an der Erschaffung der Welt. Sie bescherten ihr alle Tiere und sogar den Menschen, und das war anfangs auch wörtlich zu nehmen. Ich will damit sagen, es gab nur den Menschen und noch keine Frau. Und ob du es glaubst oder nicht, zu Anfang verlief auch alles hübsch ordentlich. Aber dann stellten die beiden Brüder etwas an (ich weiß nicht mehr genau, was es war, aber es hatte irgend etwas mit einer Ehrerbietung für den Obergott zu tun – dem Chef aller Götter –, die er eigentlich vom Menschen erwartete), und verärgerten damit den Obergott. Deshalb hat er auch eine einzigartige Strafe für die beiden Brüder ersonnen – er erschuf das Weib und gab sie Bruder Nummer zwei zur Frau.“
„Das sollte eine Strafe sein?“
Wieder zuckte Zeus die Achseln. „Ich habe diese Geschichte nicht erfunden. Ich kann nur das berichten, was vorgefallen ist …“
„Schon gut“, sagte sie. „Was geschah dann?“
„Nun, Bruder Nummer eins war sehr bestürzt über dieses Ereignis … nicht etwa, weil er keine Frau erhalten hatte, sondern weil er weder allzu großes Vertrauen in die scheinbare Güte des Obergottes legte noch viel Zuversicht in die Fähigkeiten seines Bruders hatte, mit dieser Lage fertig zu werden. Übrigens half es leider nicht im geringsten, daß die Frau außerordentlich schön war – die schönste Frau, die je gelebt hat, von damals an bis in unsere Tage. Sie war tatsächlich so aufregend gebaut, daß Bruder Nummer zwei das bißchen Verstand, das er vielleicht noch besaß, auch noch verlor, wenn er mit ihr zusammen war. Schließlich wurde aus dieser ersten Frau eine verzärtelte, verzogene
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