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Zitronentagetes

Zitronentagetes

Titel: Zitronentagetes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Orlowski
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einer Kapuze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Na ja, immerhin regnete es jetzt stärker, versuchte sie, sich zu beruhigen. Sein Gesicht konnte sie in der Dunkelheit nicht ausmachen, dafür erinnerte sein Gang sie flüchtig an jemanden. Sie lief schneller. Als sie das Tor zum Svensonschen Anwesen öffnete, begann der Mann zu laufen. Hastig schlüpfte Flo hinein, warf die Pforte ins Schloss und rannte zum Haus hinüber. Drinnen war es dunkel, kein Wunder – in der Praxis war niemand mehr und Berthas Wohnzimmer ging nach hinten zum Garten hinaus. Sie suchte fahrig nach dem Hausschlüssel und versuchte, ihn ins Schloss zu stecken. Warum, verdammt ging der Bewegungsmelder nicht an? Sie hörte ein Geräusch und erschrak. Kam das etwa von der Pforte? Der Regen fiel jetzt so dicht, dass sie rein gar nichts erkennen konnte. Eine Hand, federleicht, berührte ihre Schulter. Flo begann zu schreien.
     
    *
     
    Marc kam schnell dahinter, dass sein Ausschlafen am ersten Tag in Aspen nur eine Ausnahme gewesen war. Noch immer plagten ihn Phantomschmerzen. Myers hatte ihm erklärt, dass man unbedingt zwischen Stumpf- und Phantomschmerz unterscheiden musste. Sein Stumpf war jedoch gut verheilt. Eine Formung durch Bandagieren oder gar Nachoperieren war nicht erforderlich. Ein Orthopädietechniker hatte bereits alle möglichen Teile seines Körpers vermessen. Außerdem hatte Marc unzählige Antworten auf mehreren Papierseiten ankreuzen müssen. Er wurde demnach für den höchsten Mobilitätsgrad eingestuft.
    Seine Mutter rief jeden Abend exakt um die gleiche Uhrzeit an. Es würde ihn nicht wundern, wenn sie ihren gesamten Tagesablauf auf dieses Telefonat abstimmte.
    Myers Senior war eher von kleiner, aber drahtiger Statur. Er hatte eine hohe Stirn, dünnes graues Haar und eine sehr besonnene Art. Es schien, als würde ihn nichts so rasch aus der Ruhe bringen. Er war Chefarzt, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und verfügte über Zusatzbezeichnungen in spezieller Schmerztherapie, Sportmedizin, Chirotherapie, physikalischer Therapie, Naturheilverfahren, Rehabilitationswesen, Sozialmedizin, Akkupunktur und diagnostischer Radiologie. Die Latte war beachtlich, auch wenn sich Marc keineswegs davon beeindrucken lassen wollte.
    Gestern Abend hatte er kurz mit Scott Peterson telefoniert. Dieser hatte sich nochmals für den wiederbeschafften Job bedankt und sich nach Marcs Befinden erkundigt. Gerade überlegte er, Flo anzurufen, verwarf diesen Gedanken aber wieder. Er hätte gar nicht gewusst, was er ihr berichten sollte. Solche Dinge lagen ihm nicht, es schmeckte mehr nach Pflichterfüllung. Genau wie damals, im Ferienlager, die Briefe an seine Eltern: Liebe Mom, lieber Dad, hier ist es schön. Ich schlafe in einem Raum mit sieben Jungen. Gleich neben mir liegt Josh. Das Essen ist gut, das Wetter auch … Flo wartete sicher nicht darauf, dass er sich bei ihr meldete. Wieso auch? Außerdem hatte sie genug um die Ohren.
    Eine Schwester trat ein. »Haben Sie Ihren Termin bei Dr. Kutznick vergessen?«
    »Ach, das tut mir aber leid«, log er unverblümt.
    »Soll ich Sie hinbringen?«
    »Nicht nötig.«
     
    Der Mann war ein Zwerg und stellte sich als Dr. Kutznick, Psychologe, vor.
    »Freut mich außerordentlich, Sie kennenzulernen«, heuchelte Marc.
    »Oh, die Freude ist ganz meinerseits, Mr. Cumberland. Haben Sie sich hier bereits etwas einleben können?«
    Aspen ist wunderbar, gestern war ich beim Skifahren. Marc machte eine vage Handbewegung. Wenn der Mann so gut war, wie er tat, würde er die Geste zu deuten wissen.
    »Wie ich hörte, hatten Sie einen anstrengenden Flug?«
    Mitnichten, die Aussicht war besonders reizend.
    Der Zwergenblick fixierte ihn. »Wie wäre es, wenn wir uns in aller Ruhe ein bisschen unterhalten?«
    »Das ist nicht nötig, Dr. Kutznick.«
    »Wie kommen Sie darauf?«
    Marc verzog das Gesicht. Falls es den Psychologen irritierte, ließ er sich nichts anmerken.
    »Bestimmt möchten Sie mich vieles fragen.«
    »Nein.«
    »Beunruhigt Sie nichts an Ihrem derzeitigen Zustand?«
    Alles und jetzt lass mich in Frieden. »Ist das nicht normal?«
    Kutznick nickte. »Natürlich.«
    »Dann hätten wir das also geklärt.«
    »Ist das so?«
    »Was wollen Sie von mir hören?«
    »Ich würde Ihnen gern dabei behilflich sein, Ihre Amputation zu verarbeiten.«
    »Sie können mir nicht helfen«, sagte Marc.
    »Das klingt sehr überzeugt.«
    »Weil ich es bin.«
    »Aha.« Kutznick ließ Marc seinem Schweigen

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