Zitronentagetes
lauschen.
»Ist das eine von Ihren Psychotaktiken?«
»Nein.«
»Hören Sie, Sie vergeuden nur Ihre Zeit. Niemand kann mir helfen. Sie nicht, Myers nicht, meine Mom nicht und meine Freunde ebenso wenig. Niemand.«
»Das sagten Sie bereits.«
»Mein Bein ist ab, oder? Es bleibt auch ab. Können Sie mir so weit folgen?«
»Durchaus.«
»Ich nehme an, dass Sie keinen Zauberspruch parat haben, der mir ein neues Bein wachsen lässt.«
»Leider nein.«
»Na dann – arrivederci.«
*
Ein Brief aus New York. Mit bebenden Fingern reichte ihre Mutter ihr das Kuvert. Victoria riss ihn auf, überflog die Zeilen und taumelte zurück – wie nach einem Schlag. Man hatte eine Leiche als die ihres Ehemannes Jaques de Bourillon identifiziert und bat sie, nach New York zu kommen, um die Formalitäten zu erledigen. Sie hatte diesen Moment seit Monaten gefürchtet und so sehr gehofft, dass er niemals eintreten würde. Ihre Gebete waren nicht erhört worden.
Manchmal hatte sie sich voller Angst vorgestellt, wie es sein würde, wenn … Bestimmt würde sie schreien, zu Boden sinken oder einfach nur umfallen. Doch nichts dergleichen geschah. Sie sah ihre Mutter an, blickte wieder auf die gedruckten Zeilen des Schreibens und zog sich in eine andere Welt zurück. Eine Welt, in der niemand sie erreichen konnte. Eine Welt, in der es keinen Schmerz gab.
Noch am gleichen Tag flog sie, weil Josh sie nicht begleiten konnte, mit ihrem Vater nach New York. Im Geiste hörte sie Roy Orbison sein California Blue singen. Jaques und sie hatten vorgehabt, dort ein Weingut zu kaufen. Am Morgen des 11. September wollte er eigentlich zur Besichtigung hinfliegen. Daraus würde nun nichts werden – nie mehr. Jetzt war sie unterwegs, um ein Versprechen einzulösen. Sie würde ihren Mann heimholen.
*
»Entschuldigen Sie bitte, Sie sehen jemandem sehr ähnlich und …«
»Val, bist du von allen guten Geistern verlassen? Ich habe mich fast zu Tode gefürchtet.«
»Oh, tut mir leid. Ich bin ja so froh, dass ich dich gefunden habe, mein german Fräulein.«
Dass er ihren alten Kosenamen aussprach, rief wehmütige Erinnerungen wach. Als Flo nach dem Lichtschalter tastete, hatte sie sich noch immer nicht ganz von ihrem Schreck erholt. »Komm erst mal rein, du bist ja völlig nass.«
»Flo«, rief Bertha von oben. »Der Bewegungsmelder am Seiteneingang für die Patienten funktioniert nicht. Charly hat die Glühbirnen ausgetauscht, dass sich niemand den Hals bricht.«
Damit wäre dies also auch geklärt.
»Möchtest du erst die Praxis sauber machen oder etwas essen?«
»Ich werde gleich zum Wischmopp greifen.« Flo nahm Val die Jacke ab und hing sie auf einen Bügel. Ihr entging die kleine Reisetasche in seiner Hand nicht.
»Oh, du hast Besuch.« Bertha kam behäbig die Stufen herunter.
»Ja, ich bin selbst überrascht. Darf ich vorstellen: Bertha Chappell, wir teilen uns dieses himmlische Haus und Val Usher – mein Exmann.«
Bertha hob die Brauen, gab dem Besucher aber die Hand. »Freut mich, guten Abend. Da haben Sie ja schönes Wetter mitgebracht, Mr. Usher.«
»Kann man wohl sagen.«
»Dad?«
Flo konnte sich denken, dass Kevin seinen Ohren nicht traute.
»Der Besucher klingt wie Dad.« Ungläubig beugte er sich über das Treppengeländer. »Dad!« Juchzend rannte er die Stufen herunter. Als sich starke Arme um ihn schlossen, war die Welt des Elfjährigen wieder in Ordnung. Wie lange hatte er auf diesen Moment gewartet?
Vorsichtig schielte er zu Flo. Endlich war sein Dad gekommen. Jetzt wurde bestimmt wieder alles gut, konnte sie aus seinem Gesicht ablesen. Sie versuchte, neutral auszusehen. Kevin sah sie sichtlich erleichtert an.
»Komm, ich zeige dir mein Zimmer, ja?«
Val sah zu Flo herüber.
»Geh nur, ich mache rasch sauber und später können wir uns unterhalten.«
Val nickte unverbindlich und folgte seinem Sohn.
»Hast du mir etwas mitgebracht, Dad?«
Die Antwort ihres Exmannes wurde vom Haus verschluckt.
Berthas Gesichtsausdruck verriet an der Nasenspitze, dass sie zu gern mehr gewusst hätte. Flo hob die Schultern und machte ihr mit dieser unmissverständlichen Geste klar, dass sie ebenfalls keine Erklärung für den Besuch hatte.
Sie aßen gemeinsam in der gemütlichen Küche. Bertha hatte das Pilzgulasch vom Mittag aufgewärmt. Für Kevin hatte sie einen Hamburger zubereitet und außerdem gab es Chicorée-Salat mit Orangen und Äpfeln. Flo merkte erst jetzt, wie hungrig sie war. Auch Val
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