Zivilcourage - Keine Frage
mitgemacht habe, hab ich eine Idee, für die ich jetzt lebe: Ich würde gern Schauspieler werden. Vielleicht schaffe ich es ja. «
3 Hilflose Helfer
» Recht, von dem man keinen Gebrauch macht, stirbt ab; Freiheit, von der man keinen Gebrauch macht, welkt dahin. Widerstand muss darin bestehen, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen. Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu sein. «
Heinrich Böll
3.1 | Vom Wegschauen und Weitergehen
In den frühen Morgenstunden des 13 . März 1964 parkt Kitty Genovese ihr Auto in der Nähe ihres Wohnhauses. Plötzlich bemerkt sie, dass sie verfolgt wird. Der Mann kommt näher. Auf einmal sticht er mehrfach auf die junge Frau ein. Ihre Schreie locken die Nachbarn ans Fenster. Doch keiner öffnet, draußen ist es kalt. Kittys Hilferufe bleiben ungehört. Winston Moseley, der Angreifer, hat dennoch Angst entdeckt zu werden. Er lässt von seinem Opfer ab und fährt weg.
Wenig später kehrt er an den Tatort zurück und folgt der Blutspur von Kitty. Trotz der zahlreichen Stichverletzungen hat sie sich bis zur Rückseite ihres Wohnhauses geschleppt. Sie hat viel Blut verloren und ist kaum mehr bei Bewusstsein. Moseley findet sie dort – außerhalb der Sicht- und Hörweite der Nachbarn – und fällt erneut über sie her. Er vergewaltigt Kitty, raubt sie aus und tötet sie. Der ganze Vorfall dauert nicht länger als eine halbe Stunde.
Als die Polizei die Tat rekonstruiert, stellt sich heraus, dass mindestens 38 Menschen die Tat in irgendeiner Form mitbekommen haben. Niemand hat alles gesehen. Dennoch: Entspricht die Rekonstruktion des Falles der Wahrheit – es gab ja keine Zeugen –, machten sich nur zwei Leute bemerkbar. Ein Nachbar rief um Ruhe. Ein anderer meldet sich kurz nach dem zweiten Angriff bei der Polizei. Möglicherweise gab es schon vorher Anrufe; die Polizei hatte ihnen aber keine Beachtung geschenkt.
Die meisten Zeugen verhielten sich still. Waren sie unsicher, woher die Geräusche stammten? War es ein Streit zwischen einem Pärchen, oder waren es Kneipenbesucher, die sich auf dem Nachhauseweg laut unterhielten? Keiner schien an ein Verbrechen zu denken – ein Irrtum, der für die junge Frau tödlich endete.
Der Fall Kitty Genovese war sicherlich nicht der erste Fall seiner Art – und auch nicht der letzte: In Bremen wird ein neunjähriges Mädchen auf der Grünfläche zwischen zwei Wohnhäusern von einem Drogensüchtigen missbraucht. Ihre Spielkameraden bitten Erwachsene um Hilfe – keiner greift ein. Ein 32 -jähriger Sozialarbeiter wird in der Berliner U-Bahn zusammengeschlagen – keiner hilft. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Fast täglich hören oder lesen wir, dass Menschen Opfer von Überfällen oder Pöbeleien werden. Und andere gaffen, schauen weg, laufen weiter und tun so, als ob nichts wäre.
Er erinnert sich, wie er dem Jungen ins Gesicht sah, und über die Kälte und den Hohn in seinem Blick erschrocken war. » Von da an wusste ich, dass hier gleich etwas Schlimmes passieren wird « , sagt er. 10
Menschen sterben, weil niemand den Krankenwagen ruft. Kinder werden misshandelt, weil Passanten oder Nachbarn sich taub stellen. Verbrecher entkommen, weil keiner die Polizei alarmiert. Viele Menschen hierzulande reagieren Gewalt- und Unfallopfern gegenüber gleichgültig – das beunruhigt. Sind wir heute so mit uns selbst beschäftigt, dass wir zunehmend egoistisch und verantwortungslos werden?
Untersuchungen zeigen, dass vor allem die jüngere Bevölkerung immer weniger bereit ist, sich in die Lage anderer hineinzuversetzen und ihnen zu helfen. 11 Insbesondere Großstädter leben anonym, soziale Kontrolle ist unerwünscht. Nicht selten empfinden sie Hilfsangebote als einen Eingriff in ihre Privatsphäre. Der Grat zwischen Nachbarschaftshilfe und unerwünschter Einmischung ist schmal. Für viele ist er zu schmal – und wird deshalb nicht begangen.
Warum kam Kitty Genovese niemand zu Hilfe? Wie kann es sein, dass Menschen tagsüber auf offener Straße oder auf einem belebten Wochenmarkt Gewalt erleben, ohne dass Passanten dazwischengehen? Was hindert Menschen daran, zu helfen? Und welche privaten und rechtlichen Folgen hat das für sie?
Er hat sich später gefragt, wie lange so ein Zug normalerweise hält, (…). Er würde denken, dass es etwa dreißig Sekunden sind. Dann hätte er dreißig Sekunden gehabt zu entscheiden, ob er aussteigt und eingreift. Im Nachhinein ist ihm, als habe der Zug in Solln sogar einen Moment
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