Zone One: Roman (German Edition)
Professor firmierte, eine Bezeichnung, die seiner begriffsstutzigen Miene widersprach. Er war in sonnigeren Zeiten Maat auf einem Sportfischerboot gewesen und hatte angesäuselte Urlauber mittels Sonar zu Schnapper-Schwärmen gesteuert. Der Lieutenant bedeutete ihm, die Schachtel herumgehen zu lassen. »Ich weiß, was ihr sagen wollt – wir brauchen Stiefel, und die kommen uns mit Zahlen.«
Tatsächlich hatten sie Stiefel, und die meisten von ihnen hatten nach einer Runde von Todesmärschen durch die Treppenhäuser von Wolkenkratzern Sportschuhläden geplündert und sich mit bequemerem Designer-Schuhwerk ausgestattet; glücklicherweise hatte der Sportschuh-Sponsor mehrere Produktlinien für unterschiedliche Altersstufen, ästhetische Vorlieben und sportliche Neigungen angeboten. Es war tröstlich, in den dunklen Winkeln von Gebäuden den Absatz eines Kameraden dank der winzigen roten LED -Lämpchen in einem neuartigen Laufschuh blinken zu sehen, obwohl Mark Spitz wegen der offensichtlichen Problematik mit der Hervorhebung des Knöchelbereichs abgewunken hatte. Stiefel war der Sammelbegriff des Lieutenants für wirklich knappes Material, für das schwer zu Bekommende, das Unerlässliche. Mark Spitz hörte, wie die anderen bei der Bemerkung gelangweilt ihr Gewicht verlagerten. Was symbolisierten Stiefel für den Mann? Ordnung. Robuste Regeln. Seinen Hort von Vergangenem. Alle Überlebenden hatten sie, die Lieblingsnamen und Metonyme, die sie benutzten, um von ihrer jeweiligen Vergangenheit zu sprechen. Bagel, Kaffee, Baseballmütze, der Gegenstand, der alle Gegenstände in sich vereinigte, die Möblierung der guten alten Zeit. Warum konnte der Lieutenant seinen Schrein nicht bewahren? Alle anderen konnten es doch auch.
Mark Spitz durchblätterte das Heft. Kakteen in Blassrosa und -lila sprossen an den Blatträndern. Er erkannte, dass Buffalos Plan vernünftig war. Mit den gesammelten Daten konnte ihre Truppe von Eierköpfen sich daranmachen, hochzurechnen, wie viele von den Toten man im typischen zweiundzwanzigstöckigen Vorzeige-Konzerngebäude, im fünfstöckigen Wohnhaus, der fünfzehnstöckigen Mietskaserne und so weiter antreffen würde. Jedes Gebäude beherbergte seine wahrscheinlichen Verlaufsformen und Szenarien; das hatten sie schon früh herausgefunden. Man nehme zum Beispiel Wohngebäude. Wenn man eines der verwitterten Wohnhäuser von Downtown-Manhattan betrat, konnte man darauf wetten, dass man mindestens einen Bürger vorfand, der sich drinnen verbarrikadiert und verwandelt hatte und dann nicht mehr rausgekommen war. Bei der ersten Welle schafften es Infizierte vor dem Kollaps gerade noch nach Hause. Dann löschte die Seuche ihren Verstand und formatierte ihn neu, und sie waren in ihren Wohnungen gefangen, die erbärmlichste Sorte ans Haus Gefesselter, deren Hände sich irgendwann auf teure Sicherheitsschlösser zutasteten, an die sie jedoch wegen der Masse der prächtigen modernen Möbel, die sie selbst davor aufgestapelt hatten, nicht herankamen. Mark Spitz verfluchte sein Pech, wenn ihm aufging, dass sie die Tür entfernen und den ganzen Kram aus dem Weg räumen mussten, bevor sie das Skel erledigen konnten: die Medienschränke aus Spanplatte, beladen mit in Raten bezahlten Plasmafernsehern, die in begrenzter Stückzahl produzierten Repliken von skandinavisch-modernen Garderoben, die geliebten, unverzichtbaren Ruhesessel mit den von verschwitzten Sommern angeschmutzten Armlehnen. Diese Exemplare waren die durchschnittlichen Skels, keine harmlosen Irrläufer, sondern ein verlässlicher, wenn auch kleiner Prozentsatz dessen, womit man es in Zone One zu tun bekam, also musste man kühlen Kopf bewahren.
Inzwischen wusste Mark Spitz, wenn er ein Gebäude nur ansah, was für ein Wetter sich drinnen zusammenbraute. Bürotürme waren am wenigsten bevölkert. Die Büroangestellten hatten aufgehört, zur Arbeit zu kommen, als es passierte, und die meisten tollwütigen Skels waren von den Marines herausgelockt worden, sodass nur Irrläufer übrigblieben. (Vielleicht, dachte er, wird irgendwann einmal untersucht, welches die weiteste Strecke ist, die ein Irrläufer bis zu seinem Revier zurückgelegt hat – über Flüsse! Treibsand! Gefährliche Canyons! –, aber das war Zukunftsmusik.) Ein Gebäude wie Duane Street 135 mit seiner Palette von Unternehmen hatte seine Besonderheiten, entsprach aber gleichwohl dem herrschenden Narrativ. Kaufhäuser, multinationale Kaffeeketten, halbfertige Gebäude mit
Weitere Kostenlose Bücher