Zone One: Roman (German Edition)
trockenem Senf bestrichenes, kurzes Stäbchen hochhielt. Den Skateboarder, der auf dem filigran verzierten Gullydeckel am Fuß seiner Lieblings-Gefällstrecke posierte. Den Schaufenstergucker, der gebannt vor einem mit Brettern vernagelten Kaufhausschaufenster stand, eine längst entfernte Auslage betrachtete, die hinter dem Sperrholz gleichwohl ihren erlesen angeordneten Talmizauber entfaltete. Wer wusste, was im Rest ihres Verstandes vor sich ging, welche Trugbilder sie sich von der Welt machten. Harmlos oder nicht, die Marines schossen sie in den Kopf.
Einige von den Marines kamen ums Leben. Einige von ihnen hörten die Warnrufe nicht, bis es trotz des ganzen Gewehrfeuers zu spät war. Einige verloren in dem makabren Spektakel die Orientierung, drifteten in Träumereien von überidealisierten Phasen ihres früheren Lebens ab und wurden überwältigt. Einige wurden gebissen, büßten baseballgroße Stücke von Armen und Beinen ein. Einige verschwanden unter ganzen Horden, und vielleicht ragte noch ein Handschuh heraus, der winkte, wobei unklar blieb, ob die Hand noch von dem zu Boden Gestürzten beherrscht oder von den Schlemmenden hin- und hergeschlenkert wurde. Bestattungsrituale wurden abgekürzt. Sie äscherten die Leichen ihrer Kameraden zusammen mit den übrigen Toten ein.
Sie betankten die Bulldozer und Kipplaster. Die Luft füllte sich mit summenden Fliegen, so wie sie einst erfüllt gewesen war vom hydraulischen Jaulen von Bussen, dem Heulen von Notfallfahrzeugen, dem seltsamen Singsang in Handys, dem Klacken hoher Absätze auf Bürgersteigen, dem riesigen phantasmagorischen Orchester einer lebendigen Stadt. Sie luden die Toten auf. Nach einer Weile spülte der Regen das Blut weg. Die Kanalisation von New York hatte in ihren düsteren Jahrhunderten schon Schlimmeres mitgemacht.
Die Marines wurden versetzt, einige in den Norden des Staates, um den Abschluss der dortigen Initiativen zu beschleunigen, einige zu Nacht- und Nebelgefechten im Westen. Abgesehen davon erfuhr man nicht viele Einzelheiten. Die Army traf ein, dann, für die nächste Phase, das Ingenieurkorps. Dessen Angehörige trugen, unter den Arm geklemmt, die Papprohre mit den Plänen und Schaltbildern der großstädtischen Systeme, die Buffalo ihnen nach Ausgrabung aus irgendeinem nicht näher bezeichneten, klimatisierten Lagerhaus des Staates anvertraut hatte.
Jedes Gebäude unter zwanzig Stockwerken wurde den Sweepern überlassen. Daher Mark Spitz. Wenn seine Einheit Nummer 135 abgeschlossen hatte, waren sie mit dem von Duane und Church begrenzten Quadrat fertig. Dann hieß es, auf zum nächsten.
»Dürfte eigentlich nicht mehr allzu viel Feindkontakt geben«, sagte Kaitlyn. Sie stiegen erneut die Treppe von Duane Street 135 hinauf. Die Sweeper machten sich mit Begeisterung den militärischen Jargon zu eigen. Mit dem neuen Slang gemischt, war das neue Vokabular der Katastrophe ihre allerletzte Panzerplatte. Sie steckten sie sich über dem Herzen unter ihren Kampfanzug, die heiligen Verse, die womöglich die Kugel abhielten.
Andere Ausdrücke waren zwar auch en vogue, aber weniger erquicklich und erhebend: Ausrottung, Jüngster Tag, Weltuntergang. Sie hatten keinen Pfiff. Sie rissen die Massen nicht von ihren Luftmatratzen aus Poly-dies oder Poly-das hoch, damit sie ihr Leben dem Wiederaufbau weihten. Schon in einer frühen Phase des Neustarts stimmte man in Buffalo darin überein, dass es klug war, dem Überleben ein neues Image zu verpassen. Sie hielten sich da oben eine ziemlich ausgeflippte Menagerie von Spezialisten, überragende Köpfe, die man aus den Camps geholt hatte, und diese Leute taten den ganzen Tag nichts anderes, als sich Möglichkeiten auszudenken, wie man die Zukunft besser gestalten konnte, warfen Ideogramme auf Weißwandtafeln, besprachen sich an ihren abgesonderten Tischen in der unterirdischen Cafeteria und senkten die Stimmen, wenn Außenstehende mit einem orangenen Tablett in den Händen vorbeikamen. Einige von ihnen arbeiteten nach Kräften daran, die neue Sprache zu entwickeln, und sie produzierten mehr als nur ein paar Treffer; dem Feind, mit dem sie es zu tun hatten, war mit psychologischer Kriegsführung nicht beizukommen, aber das hieß nicht, dass ihre Prinzipien ungenutzt bleiben mussten.
Es war ein neuer Tag. Inzwischen waren die Menschen keine bloßen Überlebenden mehr, halb verrückte Flüchtlinge, eine mit Scheiße bekleckerte, traumatisierte Herde, sondern der »Amerikanische Phönix«. Die
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