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Zone One: Roman (German Edition)

Zone One: Roman (German Edition)

Titel: Zone One: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colson Whitehead
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der Brust gekreuzt. Die Zimmer bargen anthropologische Indizien in Sachen Verwandtschaftsrituale und Tabus. Wie sie mit ihren Toten umgingen.
    Die Reichen waren in aller Regel geflüchtet. Schicke Gebäude standen von oben bis unten leer, wie Omega feststellte, nachdem sie an den Fugen der Glastüren zur Eingangshalle gehebelt und sie dann doch eingeschlagen hatten (ihnen blieb trotz der Verbotskärtchen keine Wahl). Die Reichen flohen während der Wirren der großen Evakuierung, zogen ihre aufs Wesentliche eingedampften Besitztümer in Rollenkoffern europäischer Marken hinter sich her und ließen ihre Tausend-Dollar-Stehlampen zurück, deren silberne Oberflächen dann Staub ansetzten und, wie Trauerweiden über importierte Florteppiche geneigt, gegenüber Besuchern von Luxus kündeten. Die Armen neigten in großer Zahl zum Bleiben und schoben angezahlte Schreibtische und Medienkonsolen vor die Türen. Es gab diejenigen, die – gewollt verständnislos oder dumm oder vom Ausmaß der Katastrophe wie gelähmt – beschlossen zu bleiben, und diejenigen, die aus hundert anderen Gründen nicht weggehen konnten – weil sie noch warten wollten, bis ihre Freundin, Mutter oder Seelengefährtin es nach Hause geschafft hatte, weil sie in ihrer Mobilität eingeschränkt waren oder ein Verwandter nicht bei Kräften, auf Krücken angewiesen oder zu jung war. Weil sie einfach zu unmöglich war, die Ungeheuerlichkeit des Gedankens: Das ist das Ende. Er erkannte sie alle an ihrer Abwesenheit.
    Er stand in den verlassenen Nestern, trat gegen leere Dosen, die die wichtigsten Gemüse, Grundlage einer gesunden amerikanischen Ernährung, enthalten hatten. Wo verstörte Familien gezittert hatten, während sie darauf warteten, dass die Nachbarn von nebenan aufhörten, um Einlass zu schreien: Rettet uns, lasst uns rein. Als das Schreien aufhörte, warteten die Bewohner darauf, dass die Nachbarn aufhörten, vor dem Guckloch in der Wohnungstür vorbeizugehen, tödliche Schatten in dieser winzigen Öffnung. Die seuchenblinden Mieter der Wohnungen 7J und 9F, die einander in der gelegentlichen Zwangsgemeinschaft des Fahrstuhls geflissentlich ignoriert hatten, hatten sich selbst ohne Gegenstimmen in den Vorstand der Eigentümerversammlung gewählt, patrouillierten jetzt auf der Suche nach Verstößen gegen die Hausordnung und nach Fleisch durch die Flure und verhielten dabei an der Tür, als hörten sie das Atmen der drinnen zusammengekauerten Geschöpfe, obwohl diese sich alle Mühe gaben, still zu sein. Im Wohnzimmer im sechsten Stock des Hauses ohne Fahrstuhl machten sich die eingekerkerten Liebenden ein Bett aus teuren, handgenähten Decken, umringt von den Wachspfützen der Kerzen, die sie für Dinnerpartys und romantische Abende zu Hause benutzt hatten, und murmelten die frisch geprägten Koseworte: »Nein, nimm du das letzte, ich habe gestern gegessen«, und: »Wenn ich dich jetzt nicht bei mir hätte, hätte ich mich schon längst umgebracht.« Alle von ihnen warteten in jenen Anfangstagen auf ihren Augenblick der Flucht. Alle von ihnen und die Einzelgänger – die Hipster, die heimwehkranken Austauschstudenten und pensionierten Lehrer auf der Rückreise, die Älteren, die meinten, sie wären vom verhassten Treiben der Welt längst nicht mehr zu überraschen, die Neuankömmlinge mit schlechtem Timing und null Freunden, ohne alles, was auch nur entfernt jener falschen Bagage mit Namen »persönliches Netzwerk« ähnelte, und die ausharrenden Spinner, denen endlich eine pervertierte Version ihres lang ersehnten Traums der Befreiung von der Menschheit geschenkt wurde. Sie verkrochen sich wochen- oder monatelang in ihren Buden, verschlangen alles, was sich in den billigen Schränken fand, jedes noch so kleine Häppchen bis auf die Polstermöbel – und selbst die trugen manchmal Bissspuren –, bis sie schließlich zu der Tageszeit, die ihnen jeweils am sichersten erschien, einen Fluchtversuch in die Richtung unternahmen, die ihre zigmal überdachten Theorien ihnen diktierte: zu den Brücken, zum Fluss, um nach einem seetüchtigen Boot zu suchen, aufs Dach, um rettende Engel herunterzuwinken. Raus, nur raus.
    Sie hatten in den Tagen der Seuche in der Stadt gelebt. Sie hatten die Nahrungsmittel und die Hoffnung aufgebraucht und eine kleine Tasche gepackt. Irgendwann hatten sie ihre Wohnungen verlassen oder sich nach den vom Handbuch der Popkultur angebotenen Rezepten selbst das Lebenslicht ausgeblasen. In den Camps oder im Großen Draußen

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