Zone One: Roman (German Edition)
Gladys keine Zeit zum Anrufen gehabt, und mit ihren Babys ist etwas passiert. Sie hatte recht: Gladys hatte keine Zeit zum Anrufen gehabt.
Zwölf Stunden später war Mim wie alle anderen auf der Flucht. In die öden Steppen verstoßen. Mark Spitz fragte nicht nach Harry. Man fragte nicht nach den Figuren, die aus einer Letzte-Nacht-Geschichte verschwanden. Man wusste die Antwort. Die Seuche verstand sich auf Erzählschlüsse.
Mark Spitz dachte an Mim und den Spielzeugladen, während er wegen der Begegnung mit Einheit Bravo in Richtung Wonton ging. Andere Menschen mit ihren Überraschungen, die verschiedenen sozialen Erfolge in der neuen Welt. Vor der Seuche hatte er sich selten so weit downtown aufgehalten, war auf diesen Straßen nie Leuten begegnet, die er kannte, deshalb war es eigenartig, Angela und die anderen beiden auf ihrer Runde zu treffen. Mark Spitz wunderte sich selbst, wie ruhig er geblieben war, als das Geschäftsmann-Skel sich genähert hatte, wie weit er das Draußen schon hinter sich gelassen hatte. Er war einer von sechs schwerbewaffneten Soldaten. Dies war nicht die Letzte Nacht in ihren grausamen Abläufen. Dies war das neue Königreich von Zone One. Sein Revier, nach so langer Zeit.
Die Stadt – die Stadt vor der Katastrophe, mit ihren zahllosen Fallstricken und Machenschaften – schüchterte ihn ein. Er hatte nie auf der Insel gewohnt. Er hatte einen glühend heißen August lang bei einem Kommilitonen in Bushwick Unterschlupf gefunden, war mit dem L-Train steckengeblieben, klar, aber auch als er das Geld für irgendeine elende Bude hätte zusammenkratzen können, hatte er sich geweigert, in die Stadt zu ziehen. Er pendelte von seinem Elternhaus zu seinem Job in Chelsea, um sich etwas Geld zusammenzusparen, redete er sich ein. Er war nicht der Einzige, der den großen Schritt aufschob, viele seiner Altersgenossen schlurften nach dem College nach Long Island zurück, weil sie wussten, dort waren sie sicher, oder weil ihnen das klar wurde, nachdem sie sich draußen in der Welt ihre Schrammen und blauen Flecken geholt hatten. Falls sie überhaupt je weggegangen waren.
Rückblickend war es dämlich. Er wollte sich nach seiner Zeit in Kalifornien erst einmal orientieren, irgendeinen klasse Job oder irgendeine nicht näher definierte Leistung vorzuweisen haben, bevor er nach Manhattan zog. Sich vorzustellen, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, wo dergleichen etwas bedeutete: die Signifikanten der Position, die man auf der Welt einnahm. Heute machten eine rostige Machete und eine Tüte Mandeln einen zu einem Menschen, der etwas darstellte. Er hatte auf einen tollen Praktikumsplatz bei einer der Firmen in Midtown gewartet, die den Globus im Würgegriff hielten, oder … es fiel ihm nicht ein, was sonst es ihm hätte angenehm machen können, in diesem hektischen Gewühl durch die Straßen von New York zu laufen. Die Stadt hatte ihm Angst gemacht. Er konnte hundepaddeln, mehr nicht. Jetzt machte sich niemand mehr auf dem Bürgersteig breit und hinderte ihn am Vorbeikommen, niemand schnappte ihm den freien Platz in der Subway weg oder rangelte mit ihm. Er begegnete nur langsamen Desperados und Sheriffkollegen, die im Stadtgebiet Gerechtigkeit übten.
Eine Plastikfeder klebte an seinem Stiefel fest und schnickte gegen das Pflaster. Er riss sie ab. Inzwischen hatte er sich an die Stille gewöhnt, verstand sie als Teil seiner selbst, gewichtslose Ausrüstung, die er neben Verbandmaterial und Anticiprant in seinem Rucksack verstaute. Er ging mitten auf der Straße, zwischen den Knöcheln der Stahlkolosse. Vorbei an den verödeten Fenstern. Sein Rhythmus war anders als der der Marines. Die Toten waren aus den Gebäuden geströmt, als wären die Kriegsschreie und Schüsse der Soldaten eine Mittagsglocke, die sie zum Essen rief, und waren niedergemäht worden. Seine Runde durch die Mietshäuser und Luxusgebäude verlief ruhiger: Er hatte Zeit, die Zufluchtsräume zu deuten. Leere war ein Hinweis. Sie hielt die unverständliche Chronik der Metropole fest, die demographischen Realitäten, die Art und Weise, wie Geld funktionierte, die zusammengeschusterten Lebensstile und Schlafgewohnheiten. Die Bevölkerung, so erschien es ihm, war nach wie vor von geradezu wundersamer Dichte, denn die leeren Räume waren randvoll mit Belegen: den Irrläufern, die sie enthielten oder nicht enthielten, den zertrümmerten Barrikaden, den verstorbenen Familienmitgliedern auf den Futonbetten, die Arme in Ad-hoc-Riten über
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