Zopfi, Emil
zupfte sich ein Taschentuch, wischte sich Augen und Nase. «Was hast du hier zu schaffen?»
René setzte sich gegenüber, ergriff das Kartonmäppchen, schaute kurz hinein. «Immer noch politisch?»
«Alles ist politisch», knurrte Pippo, nahm ihm den Ordner aus der Hand. «Ein Bier?»
René nickte. «Noch immer die alten Geschichten?»
Pippo warf die Mappe in die Schachtel, schob sie mit einem Fuss an ihren Platz. «Schnee von gestern.»
Er holte zwei Bierbüchsen vom Gestell.
«Deine Fiche», sagte René. «Ich hab sie mal gelesen.»
«Was fällt dir ein, in meinen Unterlagen zu stöbern?»
«Kleine Rache. Weil ich am freien Nachmittag im Garten jäten musste.»
Blech klickte gegen Blech. Sie tranken, fuhren sich gleichzeitig mit der Hand über den Mund und mussten lachen.
«Etwas haben wir doch gemeinsam.»
«Viel mehr als du glaubst, Papa.»
«Und was treibst du in der Gegend?»
«Arbeit.»
«Möchtest du beim Umgraben helfen?»
«Gern ein andermal.»
Er komme vom Uetliberg, ein Mandat im Zusammenhang mit den kommenden Wahlen. Kommunikation, Webauftritt, Pressearbeit, Organisation eines Events.
«Für Tscharner also.»
René nickte.
Pippo schlug mit der Faust auf den Tisch. «Mein Sohn arbeitet für die Rechten, für Tscharner, das Schwein!»
«Ihr wart doch mal Freunde.»
«Woher weisst du das?»
«Vielleicht hast du das früher mal erwähnt. Oder Mutter …»
«Wir waren Genossen, nicht Freunde. Tscharner ein Spitzel der Bundespolizei. Er hat uns verraten. Hat mich in den Knast gebracht.»
«Ich weiss, Papa.»
«Hat man dir nicht in der Schule nachgerufen, dein Vater sei ein Kommunist und Terrorist? Hat man dir nicht ‹Hau ab nach Moskau› nachgerufen?»
René zuckte mit den Schultern. «Kann mich nicht erinnern.»
Pippo zitterte vor Erregung, rang nach Luft. «Entschuldige, ich bin besoffen.»
René stand auf. «Ich werde mir überlegen, ob wir das Mandat für Tscharner längerfristig weiterführen. Im Moment sind wir auf den Auftrag angewiesen. Die Finanzkrise hat uns zugesetzt.»
«Also hast du nichts gelernt. Arbeitest weiter für die Finanzfaschisten.»
«Ich bin Geschäftsmann, kein politischer Mensch wie du.»
«Zuerst das Fressen, dann die Moral.»
René zögerte. Er habe er sich von seiner langjährigen Partnerin getrennt, mit finanziellen Folgen.
«Von der Schaufensterpuppe?»
«Papa, bitte. Samantha war meine Geschäftspartnerin, Softwareingenieurin.»
René zog seine Brieftasche, klaubte eine Visitenkarte heraus, legte sie auf den Tisch. Pippo sah eine Reihe von Kreditkarten, das Foto einer Frau. Das ist mein Sohn, dachte er, aber ich kenne ihn nicht. Er lebt in einer andern Welt. Er spricht eine Sprache, die ich nicht mehr verstehe. Mandate, Kommunikation, Webauftritt, Event.
Er hob die Visitenkarte auf, fuhr mit dem Daumen über die eingeprägte Schrift. «Tut mir leid, kann ich nicht lesen ohne Brille.»
René tippte mit dem Finger auf Pippos Brust. «Da hängt sie um deinen Hals.»
«Ach, ich alter Trottel.»
Pippo setzte die Brille auf, las auf der Visitenkarte: «dr. rené a. schwyter infcon gmbh». Wie auf dem Briefkasten.
Er legte die Karte auf den Tisch. «Warum alles klein geschrieben?»
«Eine Idee des Grafikers. Sieht trendy aus.»
«Und das a da bei deinem Namen? Ist das auch trendy?»
«Wegen einer Verwechslung. Es gibt noch einen andern René Schwyter in der Branche.»
A, dachte Pippo. A wie Alice. «Deine Mama wäre stolz auf dich.»
«Mama hatte dich sehr lieb. Das weisst du, Papa.»
René berührte seinen Arm, ging zur Tür.
Ein kalter Luftzug liess Pippo erschauern. Er sah nicht auf, er wusste, dass René auf der Schwelle stand, dass er auf ein Wort, einen Satz wartete. Auch er hatte auf ein Wort seines Vaters gewartet nach dem Urteil. Nichts war gekommen. Niemand hatte ihn im Gefängnis besucht, weder Verwandte, Freunde noch Genossen. Nur seine Mutter schrieb ihm ab und zu ein paar Zeilen. Erst als sie ums Erbe stritten, den Hof im Wägital, hatten seine Geschwister wieder Kontakt mit ihm aufgenommen. Über einen Anwalt.
René räusperte sich, dann fiel die Tür ins Schloss. Pippo sah ihm durchs kleine Fenster nach. Mit seinen Lederschuhen tänzelte er um die Pfützen auf dem Kiesweg, drehte sich beim Gartentor nochmals um.
Auf dem Gestell stand noch eine Büchse Bier. Pippo holte sie und trank, obwohl ihn der Ekel im Hals würgte.
Hermann war eben eingeschlafen, als es klingelte. Er schoss hoch, liess sich gleich wieder ins
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