Zopfi, Emil
Mürtschenstock, Bös Fulen. Robert konnte sie nie unterscheiden, er wollte nicht. Sein erster Protest. Mutter sass stumm dabei, blickte mit traurigen Augen in die Ferne.
In einer Senke glaubte er, eine Wegspur zu erkennen, die steil hangabwärts führte. Eine Schicht Laub rutschte unter seinem Schuh weg, sie lag auf einem faulen Baumstamm. Er griff nach einem Tännchen, die nassen Nadeln glitten ihm durch die Hand, auf dem Bauch rutschte er über einen lehmigen Steilhang hinunter, ein Ast ragte aus dem Lehm, sein Mantel hängte ein, riss. Immer schneller glitt er über Erde und Laub und eine kurze Felsstufe, schlug mit den Füssen voran im Bachbett auf. Benommen blieb er liegen, spürte die Feuchtigkeit durch seine Kleider dringen. Das kalte Wasser stand ihm bis über die Knöchel. Er rappelte sich auf, taumelte durch das Bachbett hinab, die Schuhe voll Wasser und Lehm.
Bei einer flacheren Stelle fand er einen trockenen Platz unter Bäumen. Der Mantel war auf einer Seite aufgerissen, sein Smartphone hatte er verloren. Um es zu suchen, hätte er den Bach hinaufsteigen müssen, aber dazu fehlte ihm die Kraft. Ohne Licht würde er es ohnehin kaum finden. Er tastete sich ab, die Brieftasche mit den Karten und den Pässen war noch da. Seine Armbanduhr schien nicht beschädigt, doch in der Dunkelheit konnte er die Zeit nicht erkennen.
Vielleicht konnte er in der Stadt ein billiges Hotel finden, in der Gegend, wo Hermann wohnte und wo man auch einem Herrn ohne Gepäck und mit dreckigen Kleidern ein Zimmer überliess. Oder er fand bei Hermann Unterschlupf, falls man ihn nicht verhaftet hatte.
Robert folgte einer Terrasse, die in einen Weg auf einen mit Nadelholz bewachsenen Grat überging. Der Abhang auf der andern Seite lag in tiefster Dunkelheit, abgewandt von der Stadt und deren Streulicht. Fuss um Fuss tastete er sich hinab, berührte mit den Händen die Stämme der Bäume, deren Rinde und Nadeln einen eigentümlichen Geruch ausströmten. Einer der bedeutendsten Bestände an Eiben in Europa, mein Sohn. Das war wieder Vaters Stimme. Rinde, Nadeln und Samen sind giftig. Können ein Pferd töten. Er sah Vaters Gesicht, als er ihm gestand, dass ihn die Universität ausgeschlossen und er auch die Stelle als Hilfslehrer am Gymnasium verloren habe wegen des Strafverfahrens. Ein Gesicht wie Stein. Wie später im Sarg. Und dann: Du bist nicht mehr mein Sohn.
Robert setzte sich auf einen Baumstamm, der quer im Weg lag, und legte seinen Kopf auf die verschränkten Arme.
Pippo machte kein Licht. Die Strassenbeleuchtung des Höhenwegs unterhalb der Gärten schien fahl durchs kleine Fenster. Mühsam erhob er sich, seine Gelenke brannten wie Feuer. Kälte und Nässe gaben der Arthritis Schub. Er schluckte ein Kortison. Dann kochte er Kaffee, gab einen Schuss Kräuterschnaps dazu und zwei Würfelzucker. Der süssliche Duft entführte ihn in jene Sommer auf der Schwarzenegg im Wägital, während denen er dem Älpler zur Hand ging, einem Onkel. Tagsüber hütete er Rinder oder kletterte hoch hinauf ins Bockmattli und zählte die Schafe, die dort oben weideten. Manchmal waren Junge zur Welt gekommen, gelegentlich fehlte ein Tier, abgestürzt oder verirrt in den Steilhängen und Schluchten. Abends sassen sie vor der Hütte, der Onkel rauchte Pfeife und trank Kaffee mit viel Schnaps. Auch er bekam eine Kachel, der Geruch des verdampfenden Alkohols berauschte ihn. Eine glückliche Zeit, verklärt in der Erinnerung.
Nun sass er am Tisch, die Pistole lag neben der Kaffeetasse. Drei Schuss hatte er abgegeben, noch fünf Patronen sassen im Magazin. Die Männer aus der Genossenschaft hatten ihn erkannt, es würde nicht lange dauern, bis die Polizei einfuhr und ihn verhaftete. Es war ihm egal. Gefängniszelle oder Genossenschaftswohnung, die Einsamkeit war dieselbe. Im Knast würde man sich um ihn kümmern, es gab regelmässig zu essen, Beschäftigung und ein paar interessante Typen. Therapeutinnen bemühten sich um die Resozialisierung, Bewährungshelfer regelten den Alltag nach der Entlassung. Er kannte den Betrieb und fürchtete sich nicht davor. Eigentlich, dachte er, hätte ich Tscharner umlegen sollen. Dann wäre ich für den kurzen Rest meines Lebens versorgt. Und die alte Rechnung wäre beglichen.
Dann dachte er wieder an die Schwarzenegg. Noch einmal dort hinauf, vor der Hütte an der Sonne sitzen, einen starken Kaffee trinken. Sein Onkel war längst tot, Alphirt im Sommer, Bauarbeiter im Winter, kaltes Bier, schlechtes Essen,
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