Zopfi, Emil
des Salons passen würde.
Ihr rundes Gesicht strahlte ihn an: «Der liebe Hermi, wie nett.»
Carmen legte ihren Arm um Ruths Hüfte, küsste sie auf die Wange: «Meine schönste Tangoschülerin. Ganz grosses Talent.»
«Ja, ja», murmelte Hermann, erinnerte sich an den stolpernden Ocho, den sie geübt hatten, und an das Nachspiel in ihrer schäbigen Wohnung. Zaghaft näherte er sich Carmen und wagte es, sie neben dem Ohr in die Luft zu küssen und dabei ihre Schulter sacht mit zwei Fingern anzutupfen. Er fragte nicht, woher und wohin, er wusste, dass sie das nicht mochte. Die Schwalbe war heimgekehrt, die Prinzessin residierte wieder in ihrem Schloss. Dann umfing er Ruth, schmatzte drei Küsse auf ihre Wangen und die Schweissperlen auf ihrer Schläfe, drückte ihren schweren Körper. Die Erinnerung an eine warme wohlige Nacht und einen heftigen Morgen durchrieselte ihn, wusch jeden bösen Gedanken aus seinem Kopf. Hermann war glücklich.
«Ja, da bin ich also wieder.» Carmen hob eine angebrochene Flasche Prosecco in die Höhe, Irina hielt ihr ein Sektglas hin. «Wir feiern, Hermann, wir feiern.»
Carmen schenkte ein, reichte Hermann das Glas mit zwei Fingern, die spitzen roten Nägel waren aufgeklebt. «Und was macht unser Film?»
«Unser Film …», stammelte Hermann. In seinem Kopf entrollte sich eine schwarze Leinwand. Tanguerilla. Regie Hermann Amberg … In der Rolle von Carmen Calderón …
«Du bleibst doch dran, oder nicht?»
«Ja, gewiss. Nur eben, die Finanzen … Es ist schwer, die Finanzkrise, weisst du. Die Kulturbudgets werden gekürzt. Und so weiter.»
Hermann nippte am Glas. Der Prosecco war schal geworden in der heissen Luft. Dann fiel ihm ein, dass er eigentlich trocken war, genau seit dem 9. November 1989, der Nacht des Mauerfalls.
Irina hob ihr Glas. «Wir feiern …» Augen strahlten Hermann an. Carmen, Ruth, Irina und die zwei Mädchen, die etwas zerzaust hinter der Bar hockten. Erst jetzt bemerkte er noch eine Gestalt im Hintergrund. Ein knochiger Typ mit einem schwarzen Hut auf dem Kopf. Aus dem Zwielicht trat er hervor, küsste Carmen hinters Ohr. Dann fasste er sie um die Taille, fummelte schamlos an ihr herum. Hermann ignorierte ihn. Feindschaft auf den ersten Blick. Er wünschte, Robert wäre da und würde ihm den Rücken stärken. Auf Robert war immer Verlass gewesen, auch damals, als sie zu Fuss flüchteten. Er hatte ihn nicht im Stich gelassen.
Für Sekunden schwanden ihm die Sinne. Irina umarmte ihn heftig, drückte seinen Kopf zwischen ihre weichen Brüste. «Wir feiern Hermis Geburtstag!», schrillte sie.
Er japste nach Luft. «Oh Scheisse!»
Mitternacht war vorbei.
Ein Chor von Engelsstimmen erklang. «Happy Birthday to Hermann …»
Seine Mutter hatte ihm erzählt, er sei gegen drei Uhr morgens zur Welt gekommen. Und nun war es so weit. Vor exakt siebzig Jahren hatte der Hermeli Amberg das Licht dieser traurigen Welt erblickt. In einer schwachen Stunde musste er das Irina erzählt haben.
«Dass du daran gedacht hast.» Er war den Tränen nahe, nahm einen Schluck. Der Prosecco schmeckte wie Elmer Citro.
«Manatschment», kicherte Irina, küsste ihn ab und zupfte seine Schnurrbartspitzen. Dann küssten ihn alle auf Wange, Mund und Stirn, ausser den beiden Mädchen. Für ihre Küsse gab es auf Irinas Website Tarife.
Hermann vermied es, seinen magersüchtigen Feind zu küssen. Der hockte inzwischen seiner Prinzessin auf dem Schoss. Sie hob ihm den Hut vom Kopf, setzte ihn selber auf. Augenblicklich verwandelten sich die beiden. Nun war sie der Mann und die Mumie eine Frau mit kurzem Haarschnitt. An ihren Fingern glitzerten Ringe, im Nasenflügel ein Diamant. Carmen lachte ihr Glockenlachen, erzählte irgendwas von Las Vegas, Gay Wedding Chapel und Honeymoon. Hermann verstand die Welt nicht mehr.
Er trank, und allmählich löste sich die Wirklichkeit in Nebelschleiern und Rauchschlieren auf. Ein Korken knallte, Engelsglocken erklangen. Tanti auguri. Felicitaciones. Happy Birthday. Er war siebzig Jahre alt geworden, und das war seine Feier. Er dachte an seinen Vater und seine arme Mutter und an sein armseliges Leben, seine gescheiterten Versuche, ein Soziologe, ein Schriftsteller, ein Politiker, ein Filmemacher oder sonst ein Künstler zu werden. Und selbst im Tango war er nichts anderes als ein Stümper und Stolperer, ein ewiger Anfänger. Er hatte den Ocho verpatzt, nicht die gute Ruth. Sein Kopf lag auf seinen Armen, er schluchzte, dass sein ganzer Körper bebte.
Weitere Kostenlose Bücher