Zorn: Thriller (German Edition)
aufzufressen.‹«
»Genau«, meinte Söderstedt. »Und sie sprach außerdem von einer kleinen einsamen Insel.«
»Sachalin ist aber weder einsam noch klein«, erklärte Chavez und zog sein Handy hervor.
»Ich glaube nicht, dass es Sachalin ist«, meinte Söderstedt und schüttelte den Kopf. »Viktor Larsson war dreizehn Jahre alt, als die Sowjetunion mit dem 1. Januar 1992 zerfiel. Er muss also 1978 geboren sein, oder? Als Viktor Lebedev in Moskau. Das dürfte sich nachprüfen lassen. Sein Großvater war ungefähr zehn, als er auf der Hölleninsel landete. Wann könnte das gewesen sein? Wenn wir das Ganze einmal überschlagen und davon ausgehen, dass Larssons Mutter fünfundzwanzig war, als er geboren wurde, dann ist sie 1953 geboren. Wenn ihr Vater, sagen wir mal, dreißig war, als sie geboren wurde, müsste er Jahrgang 1923 sein, also zehn Jahre alt, im Jahr neunzehnhundert ...«
»1933!«, rief Chavez mit einem Blick auf sein Handy aus.
»Gut gerechnet«, meinte Söderstedt trocken.
»Nicht gerechnet«, entgegnete Chavez. »Ich lese. Jetzt hört genau zu. Im Februar 1933 präsentierten Genrich Jagoda, Chef der sowjetischen Geheimpolizei OGPU, und Matvei Berman, Chef des Gulags, Stalin einen ›grandiosen Plan‹. Der Gedanke knüpfte an die vergangene dreijährige Deportation von zwei Millionen sogenannter Kulaken, ehemaliger Großbauern, an, die in der sibirischen Einöde angesiedelt wurden, also schlicht und einfach im Gulag. Nun wollte man mit weiteren zwei Millionen Menschen aus den russischen Großstädten Moskau und Leningrad ebenso verfahren. Dort hatte man seit einigen Monaten einen ›Inlandspass‹ eingeführt, den die Einwohner jederzeit bereithalten mussten. In beide Großstädte begannen nämlich ›sozial schädliche und deklassierte Elemente‹ zu strömen. Jagoda und Berman sahen jetzt die Chance gekommen, die russischen Großstädte von diesen ›schädlichen Elementen‹ zu säubern und zugleich die brachliegenden Gebiete in Sibirien und Kasachstan zu bebauen und bewirtschaften. Noch bevor dieser ›grandiose Plan‹ von Stalin gutgeheißen worden wäre, begann man, die Menschen zu deportieren, die keinen Inlandspass besaßen. Sie sollten mit dem Zug in Auffanglager vor allem in Tomsk transportiert werden. Von dort sollten sie mit Kähnen den Fluss Ob stromaufwärts in die brachliegenden Gebiete in Westsibirien gebracht werden, um neue Ortschaften zu erschließen. Das Problem bestand allerdings darin, dass der Plan nicht im Mindesten durchdacht war, als man am 14. Mai fünftausend Gefangene in vier Lastkähne zum Weitertransport in die Bezirkskommandantur Alexandro-Wachowskaja verfrachtete. In Tomsk war man von dem Vorhaben vollkommen überrascht worden. Als man erfuhr, dass in einigen Tagen fünftausend Großstädter, eintreffen würden, geriet man in Panik. Was sollte man mit all diesen Menschen machen? In aller Eile wurden um die fünfzig Obdachlose aus Tomsk als Aufseher verpflichtet, die man dann mit den Kähnen mitschickte. Die Boote fuhren los, ohne Vorräte an Bord, abgesehen von zwanzig Tonnen Weizenmehl.
Nach vier Tagen auf dem Wasser luden die vier Kähne am Nachmittag des 18. Mai 1933 viertausendfünfhundertsechsundfünfzig Männer und dreihundertzweiundzwanzig Frauen auf einer kleinen einsamen Insel namens Nasino im Fluss Ob ab. Siebenundzwanzig Menschen waren an Bord der Kähne gestorben, und ein Drittel der Überlebenden war so entkräftet, dass die Menschen nicht mehr aufrecht stehen konnten. Zusätzlich lud man die zwanzig Tonnen Mehl ab, und man häufte sie zu einem riesigen Berg auf.
Man konnte das Mehl natürlich nicht essen, und ohne Kochmöglichkeiten und Trinkwasser ließ sich nichts daraus zubereiten. Die Menschen hungerten, und bald kam es zu ersten Fällen von Kannibalismus. Am 21. Mai zählten die Gesundheitsoffiziere weitere siebzig Tote, eine große Anzahl von ihnen war Opfer des Kannibalismus gestorben. Später wurde Nasino als ›Kannibaleninsel‹ bezeichnet.«
Kerstin Holm, Sara Svenhagen und Arto Söderstedt musterten Jorge Chavez eingehender, als er es je zuvor erlebt hatte. Es wurde für eine ganze Weile still.
Dann nickte Söderstedt. »Ja«, sagte er. »Da haben wir es. Den Kommunismus in seiner schönsten Form.«
»Oder besser gesagt den Stalinismus«, meinte Chavez. »Obwohl Stalin den ›grandiosen Plan‹ nicht bewilligt hatte. Aber da waren die Deportierten bereits auf dem Weg nach Nasino.«
»Ich muss an dieses Gefäß denken«, sagte
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