Zorn: Thriller (German Edition)
tun, unabhängig von der Person, all das.«
»Und Sie glauben, dass er gegen den hippokratischen Eid verstoßen hat?«
»Es ging um einen ehrenvollen Auftrag, ich erinnere mich noch daran, dass er das sagte, als er anfing. Ein Auftrag, für den jeder Forscher in seiner Situation einen Mord begangen hätte. Das hat er tatsächlich gesagt. Jetzt mutet es allerdings etwas zynisch an.«
»War er oft in Europa?«
»Die wenigen Male, wo ich ihn dazu bringen konnte, es mir zu sagen, war es Europa.«
»Hat er Ihnen irgendetwas darüber erzählt, worin dieser Auftrag bestand?«
»Nein. Aber er sagte, dass er an die Schweigepflicht gebunden sei. Aber das war er vorher als Arzt ja auch, und trotzdem sprachen wir oft über seine Patienten. Aber bei dieser Sache ging es um eine andere Art von Schweigepflicht, wie er sagte. Er war sehr ernst und verschlossen. Larsey, der so gerne redete. Wenn ich einmal sterbe, wird er der Mensch sein, mit dem ich am meisten geredet habe. Bei Weitem.«
»Aber dann hat er geschwiegen?«
»Ja, und angefangen zu trinken.«
»Allein?«
»Oft allein, aber manchmal auch mit Dick. Nie mit mir. Es war, als wollte er mir seinen Verfall ersparen. Armer Teufel.«
»Dick?«
»Ein ehemaliger Kollege aus der Zeit in Kalifornien. Dort haben wir uns übrigens kennengelernt, in Los Angeles. Er hat nach der Zeit in Hamburg an der UCLA angefangen, ist dann aber bald hierher nach ›Rainy City‹ gezogen, als er die Forschungsstelle bekam. Und ich bin ihm gefolgt, frisch verliebt, jung, glücklich und mit einer Welt in greifbarer Nähe, von der ich nie auch nur geahnt hätte, dass es sie gibt.«
»Und diesen Dick hat er also in Los Angeles kennengelernt?«
»Ich glaube, dass sie sich noch aus Hamburg kannten, denn sie waren die einzigen Ausländer am Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf gewesen. Wir haben ihn Dick genannt, aber ich erinnere mich, dass er eigentlich Dedrick hieß.«
»Aber Dick hatte mit diesem Auftrag nichts zu tun? Er war also nur ein alter Freund?«
»Dick war ebenfalls Arzt, auch Genforscher. Sie haben gemeinsam an einem Forschungsprojekt in Hamburg gearbeitet, für das sie große Anerkennung erhielten. Daraufhin hat sie die UCLA nach Los Angeles geholt. Doch dann hat man Larsey eine bessere Stelle in Seattle angeboten. Manchmal habe ich durchs Fenster beobachtet, wie Dick Larsey abgeholt hat, wenn er wieder zu einer längeren Reise aufbrach. Aber vor allem war er für ihn der Gesprächspartner, der irgendwann wichtiger wurde als ich.«
»Wissen Sie, wie dieser Dick mit Nachnamen heißt? Und ob er immer noch an der UCLA arbeitet?«
»Ich erinnere mich nicht mehr an seinen Nachnamen«, antwortete Jennifer Smith. »Er klang irgendwie eigenartig, europäisch. Und Dick selbst habe ich auch nicht mehr gesehen, seit Larsey zurück nach Schweden gegangen ist, um sich totzusaufen.«
Sie verstummte. Saß still da, klein und zusammengekrümmt und vom Leben enttäuscht. Sie hatte den Himmel berührt und war dann tief auf die Erde zurückgefallen. Und der Engel, der sie einst getragen hatte, war noch tiefer gefallen und zum Teufel geworden.
Vermutlich jedenfalls, dachte Felipe Navarro und richtete seinen Krawattenknoten. Er hatte keine weiteren Fragen. Also ließ er sie mit all ihrer Trauer in ihrem Sessel zurück.
Doch er konnte nicht umhin, sich in der Tür noch einmal umzudrehen. Sie wirkte dort hinten am Fenster so winzig und elend, dass es ihm die Kehle zuschnürte.
Während er mit dem Aufzug nach unten fuhr, rief er Paul Hjelm in Den Haag an.
»Ich glaube, dass ich den Namen eines weiteren Mitglieds dieser Sektion habe«, sagte er ohne Umschweife.
Er hörte, wie Hjelm laut aufstöhnte. »Es ist zwei Uhr nachts«, protestierte er mit belegter Stimme.
»Tut mir leid«, entschuldigte Navarro sich. »Hast du schon geschlafen?«
»Das Erstaunliche ist, dass ich noch nicht geschlafen habe. Ich sitze noch an dem Fall. Er stinkt meilenweit.«
»In der Tat«, sagte Navarro. »Es war zweifellos die Arbeit in dieser Sektion, die Lars-Erik Dahlberg kaputt gemacht hat. Aber er hatte einen Kollegen, der ebenfalls Genforscher war, mit dem er soff und redete. Und der ihn offenbar manchmal zu den Orten chauffierte, wo er seine geheime Freistellungszeit verbrachte. Oder zum Flughafen.«
»Okay«, entgegnete Hjelm. »Das klingt vielversprechend. Und wie hieß der Kollege?«
»Ich habe keinen Nachnamen, aber sein Vorname klingt Flämisch. Dedrick. Es dürfte nicht so schwer sein, ihn
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