Zorn: Thriller (German Edition)
worden, somit war der Raum jetzt leer.
»Wie groß bist du eigentlich, Marek?«, fragte Balodis.
»Einen Meter einundneunzig, vierundneunzig Kilo schwer«, antwortete Kowalewski und blickte etwas unschlüssig drein.
»Polnisches Bauernblut«, murmelte Balodis. »Spring rein. Ich werde versuchen, mich nach dir reinzuschieben. Und Sie, Kapitän Rouzier, müssen die Luke hinter uns schließen. Aber nicht abschließen. Denn wir müssen sie verdammt schnell öffnen können. Verstanden?«
Der Seemann nickte widerwillig.
Während Kowalewski sich in das kleine Kabuff zwängte, fuhr Balodis fort: »Sie haben noch drei weitere Aufgaben zu erfüllen, Kapitän Rouzier. Die erste besteht darin, sich auf keinen Fall anmerken zu lassen, dass wir an Bord sind. Die zweite ist, Ihren Passagier von diesem Raum für die Schwimmwesten fernzuhalten. Und die dritte, uns ein Zeichen zu geben, sobald Sie das Ziel erfahren haben. Klopfen Sie einfach kurz an die Luke. Okay?«
Ein weiteres widerwilliges Nicken des Kapitäns. Balodis riss sich das Dreieckstuch vom Arm und warf es ins Mittelmeer. Dann justierte sie ihre Dienstwaffe im Achselhalfter und betrachtete Kowalewski, der sich in das kleine Kabuff gezwängt hatte. Sie schüttelte den Kopf und schob sich zu ihm hinein. Rouzier schloss die Luke.
Es war zweifellos eng. Balodis war gezwungen, sich mit dem Rücken gegen Kowalewskis Schritt zu pressen. Sie spürte seinen Penis an ihrer Wirbelsäule und hoffte, dass W nicht allzu lange damit warten würde, Rouzier das Ziel zu nennen. Sie warf einen Blick auf ihr Handy. Der Punkt bewegte sich jetzt langsamer. W war also eingetroffen. Balodis atmete ruhig und spürte jede Gewichtsverlagerung von Kowalewski, als das Wassertaxi zu schaukeln begann. Sie schob ihr Handy in die Hosentasche und lauschte den Schritten, die sich mit schicksalsträchtiger Bedächtigkeit auf dem Anleger näherten. Dann hörte sie Kapitän Rouzier etwas auf Französisch sagen. Eine zweite, tiefere Stimme antwortete in mindestens ebenso untadeligem Französisch. Es war ungefähr die Stimme, die Balodis sich für W vorgestellt hatte.
W befand sich jetzt tatsächlich dort draußen. Der Serienmörder, der sich zu einer vollendeten Kampfmaschine entwickelt hatte, stand nur einige lächerliche Meter von ihr entfernt. Sie spürte, wie aufgeregt sie war.
Das Problem bestand darin, dass sie kein Wort von dem verstand, was da draußen gesagt wurde. Bis Kowalewski sich vorbeugte und ihr leise, aber etwas feucht ins Ohr flüsterte: »Unverzügliche Abfahrt nach Korsika, das genaue Ziel wird auf offenem Meer mitgeteilt.«
Laima Balodis nickte kurz. Irgendwo dort auf der anderen Seite der Luke bewegte sich der Mörder. In dem kleinen Kabuff war es pechschwarz, aber sie konnte Ws Schritte noch eine Weile hören, bis der Schiffsmotor mit einem ohrenbetäubenden Lärm angelassen wurde. Danach war von draußen nur noch ein Brummen zu vernehmen. W stand möglicherweise direkt vor der Luke. Er würde sie jeden Moment aufreißen können, und sie hätten keine Chance, sich zu verteidigen.
Die Gefahr verlieh ihr eine gewisse Energie. Sie fühlte sich höchstlebendig. Denn sie hatte eine Vergangenheit, über die sie nie sprach, eine Vergangenheit als Mafiaspitzel im heruntergekommensten Hafenviertel von Klaipe˙da in Litauen. Wo sie monatelang von genau diesem Gefühl verfolgt worden war, dass die Luke jeden Moment aufgerissen werden konnte, buchstäblich monatelang. Irgendwann wurde das ständige Gefühl von Todesangst alltäglich, und als sie endlich wieder aus ihrer Spitzelrolle schlüpfen konnte, war es ihr nahezu unmöglich, ein normales Leben zu führen. Laima Balodis würde es zwar niemals öffentlich eingestehen, aber sie brauchte diesen Kick der Lebensgefahr, um das Gefühl zu haben, am Leben zu sein. Und genau das hatte sie auch verspürt, als sie in der Jagdhütte in Andalusien im Blut der beiden Männer gelegen hatte. Und das spürte sie auch jetzt.
Den Kick der Lebensgefahr.
Kowalewski, der Schreibtischbulle, der vor einem Jahr in New York Auge in Auge mit dem Tod gestanden hatte, verspürte es offenbar auch. In einer anderen Situation wäre es äußerst peinlich gewesen, zu fühlen, wie sein Penis an ihrer Wirbelsäule wuchs, aber in dieser absoluten Dunkelheit, den heulenden Schiffsmotor in den Ohren, vermittelte es ihr unerwartete Sicherheit.
Kowalewski beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: »Sorry.«
Sie musste lächeln. Sie schüttelte den Kopf und zog langsam
Weitere Kostenlose Bücher