Zorn: Thriller (German Edition)
ihre Waffe. Kowalewski tat es ihr gleich.
Sie hatten sich vorher abgesprochen. Wie wichtig es sein würde, die Muskeln in Bewegung zu halten, die einzelnen Fasern anzuspannen. Dass sie der plötzliche Lichteinfall, wenn die Luke aufgerissen würde, in den ersten Sekunden fast blind machen würde. Wie wichtig es sein würde, Ws Standort sofort auszumachen, trotz des grellen Sonnenlichts. Sie durften ihm nicht mehr als eine Sekunde Zeit lassen.
Die Minuten verstrichen zäh. In ihren Körpern begann es zu kribbeln. Balodis meinte zu spüren, wie Kowalewski ein Bein einschlief. Als sie es berührte, begann es leicht zu zucken. Das Motorengeräusch dröhnte in dem kleinen Kabuff wie in einem Resonanzkörper. Kowalewski schwitzte, und sie spürte, wie sein Hemd feucht wurde. Allmählich wurde das Warten zur Qual.
Das Geräusch, das sie schließlich vernahmen, war kaum hörbar. Es könnte ein Klopfen gegen die Luke gewesen sein. Aber ebenso gut auch ein kleines Stolpern des Motors. Es kam nicht wieder. Doch Kowalewski tippte Balodis leicht auf die Schulter. Er hatte es also auch gehört.
Demnach musste es ein Klopfen gewesen sein.
Balodis holte tief Luft und nickte. Sie versuchte, ihre Beine ein wenig zu lockern, und Kowalewski tat es auch. Ihre Körper wurden von Nadelstichen traktiert.
Balodis trat die Luke auf und stürzte taumelnd heraus. Das Licht blendete sie zwar stark, aber dennoch konnte sie zwei Gestalten erkennen, die fünf Meter entfernt am Ruder standen. Doch gleichzeitig spürte sie, dass ihr die rechte Hand nicht gehorchte. Sie sah wie in Zeitlupe, wie ihr die Pistole aus der Hand glitt und in hohem Bogen davonflog. Mit einem Hechtsprung fing sie die Waffe auf und knallte dann auf die Schiffsplanken. Von ihrer beschämenden Position aus sah sie Kowalewski an ihr vorbeistürzen. Er versetzte einer der beiden Silhouetten am Ruder einen Faustschlag ins Gesicht, sodass das Blut spritzte. Balodis sprang auf und lief zu Kowalewski. In dem Moment wurde sein normalerweise leicht gerötetes Gesicht plötzlich kreidebleich, und er riss die Augen auf. Sie richtete ihre Pistole auf den Mann, der vor ihnen am Boden lag. Sein Gesicht war blutig, er wand sich, schien unter Schock zu stehen, war jedoch bei Bewusstsein. Währenddessen starrte Kowalewski entgeistert auf seine blutigen Fingerknöchel.
Balodis zog mit der linken Hand ihr Handy hervor und versuchte, Söderstedts Foto von W zu öffnen. Der Mann, der nun zu wimmern begann, hatte in der Tat gewisse Ähnlichkeit mit dem Bild, aber er war ganz offensichtlich mindestens fünf Jahre jünger. Dieser Mann war kaum fünfundzwanzig.
»Er hat mich vorgewarnt, dass irgendetwas in dieser Art passieren könnte«, stammelte er auf Englisch, dann spuckte er fluchend auf den Boden.
»Wer sind Sie?«, brüllte Balodis.
»Ich heiße Armand Jonquet«, antwortete der Mann. »Sie können in mein Portemonnaie schauen. Ich komme aus Lyon und wohne im Hôtel Les Poux Morts. Verdammt, ich glaub, dass ein paar Zähne locker sind. Dämlicher Idiot!«
Balodis warf einen Blick zu Kowalewski hinüber. Der lief auf dem Deck hin und her und fluchte auf Polnisch, während er seine rechte Hand schüttelte. Kapitän Rouzier am Ruder war leichenblass. Er hatte den Motor gedrosselt und starrte bestürzt auf das Trio.
Äußerst widerwillig gestand Balodis sich ein, dass Armand Jonquet nicht W war. Der war ihnen entwischt.
»Erzählen Sie uns, was geschehen ist«, forderte sie ihn auf, ohne ihre Waffe zu senken.
»Ich hab ’ne Menge Knete bekommen und sollte auf Korsika noch mal genauso viel kriegen. Ich sollte diese Jacke hier anziehen, die Kapuze aufsetzen und mit ’nem silbergrauen Mazda, der vor dem Hotel stand, runter zu den Wassertaxis fahren. Er hat ’ne akkurate Skizze angefertigt. Ich wusste genau, wo ich hinmusste.«
»Er?«, fragte Balodis. »Ist er das?«
Sie hielt ihm ihr Handy mit Söderstedts Foto von W hin.
»Ja«, antwortete Armand Jonquet, denn so hieß er tatsächlich. Balodis hatte ihm die Brieftasche aus der Innentasche seiner Jacke gezogen und warf sie Kowalewski zu, der sich inzwischen etwas gesammelt hatte. Er hielt Balodis Jonquets Führerschein hin.
Sie konzentrierte sich und dachte nach.
»Wann genau war das?«, fragte sie dann.
»Vor zwei Stunden ungefähr. Verdammt, schauen Sie hier, ein Zahn.«
»Und Sie sollten Kapitän Rouzier das Ziel nennen, sobald Sie draußen auf dem Meer wären?«
»Ja, verdammt. Er hat mir genau gesagt, wann.«
»Und
Weitere Kostenlose Bücher