Zorn - Tod und Regen
Tüte mit Lakritz in den Schoß. »Iss das. Du wirst Kraft brauchen.«
Dann steht er auf. Sie hört, wie die Gelenke in seinen Knien leise knacken. Er geht zur Tür und öffnet sie, bleibt stehen und dreht sich um. Licht fällt von außen herein, seine dunkle Gestalt füllt den kompletten Türrahmen. Jetzt sieht er aus wie eines der gesichtslosen Monster aus ihren Träumen. Der Schwarze Mann.
Sie dreht den Kopf in seine Richtung. »Mein Papa ist viel stärker als du.«
Er zuckt die Achseln. »Das werden wir sehen.«
Dann ist er fort.
*
Im oberen Stockwerk des neuen Kaufhauses befand sich ein Café, von dessen Terrasse aus man den gesamten Markt überblicken konnte. Seit fast zwei Stunden saß Zorn an einem der weißen Plastiktische, rauchte und nippte ab und zu an einem Bier, wobei er die Telefonzelle neben der Kirche keine Sekunde aus den Augen ließ. Er war der einzige Gast hier draußen, was bei diesem Wetter nicht verwunderlich war. Obwohl er eine dicke Regenjacke trug, war er mittlerweile völlig durchfroren, und doch schätzte er sich glücklich, ein halbwegs windgeschütztes Versteck gefunden zu haben, von dem er die Telefonzelle genau im Blick hatte.
Die Kellnerin steckte den Kopf durch die Tür, kniff die Augen zusammen und schirmte mit der Hand das Gesicht gegen den Regen ab.
»Kann ich Ihnen noch was bringen?«
Zorn überlegte, ob er sich einen Tee bestellen sollte, winkte dann aber ab. Kopfschüttelnd verschwand sie im Inneren des Cafés.
Er trank einen Schluck Bier und verzog das Gesicht. Wenigstens bleibt es kalt, dachte er und starrte angestrengt in Richtung Telefonzelle. Seine Augen brannten. Ein Glück, dass sie nicht zu weit entfernt ist, überlegte er weiter, ansonsten würde ich so gut wie nichts erkennen. So geht das nicht weiter, ich brauche wirklich eine Brille.
Sein Haar war klitschnass, er zog die Jacke enger um die Schultern und sah auf die Uhr. Gleich sechs, Mahler musste jeden Moment auftauchen. Zorn war sicher, dass er kommen würde. Warum das so war, konnte er nicht sagen, schließlich war es nur ein Gefühl. Aber er verließ sich darauf. Ebenso, wie er beschlossen hatte, niemanden im Präsidium von seinem Treffen zu unterrichten. Natürlich hätte er den kompletten Marktplatz überwachen lassen können, aber er war überzeugt, dass Mahler auf so etwas vorbereitet war und beim geringsten Anlass auf Nimmerwiedersehen verschwinden würde.
Wahrscheinlich bist du schon irgendwo in der Nähe, überlegte Zorn. Sitzt genau wie ich versteckt an einer erhöhten Stelle und hältst Ausschau, ob ich womöglich mit großem Gefolge anrücke. Ich sollte wenigstens den dicken Schröder anrufen und ihm Bescheid geben, was passiert ist.
Er angelte mit klammen Fingern nach seinem Handy. Der Wind frischte auf, eine Papierserviette wurde vom Tisch geweht und flog über das Geländer. Ein paar Sekunden stand sie still in der Luft, dann drehte sie sich ein paarmal um sich selbst und flog steil hinunter. Zorn folgte ihr unwillkürlich mit den Augen.
Dann sah er ihn.
Henning Mahler lehnte vielleicht fünfzig Meter von der Telefonzelle entfernt an einem Bauzaun neben der Kirche und sah zu ihm auf. Zorn zuckte automatisch zurück, ging hinter dem Geländer in die Knie und überlegte fieberhaft, was er tun sollte.
Als er sich ein paar Sekunden später wieder vorbeugte, hatte sich Mahler keinen Zoll von der Stelle bewegt. Mit einem Mal wusste Zorn, dass er ihn die ganze Zeit beobachtet hatte.
Mahler schien zu lächeln, genau konnte Zorn das auf diese Entfernung nicht sagen. Er winkte hinauf, dann drehte er sich um und war im nächsten Moment hinter dem Bauzaun verschwunden.
*
Schröder hatte Kopfhörer aufgesetzt und tippte das Protokoll von Mirko Stapics Vernehmung in den Rechner. Eigentlich hätte er diese Arbeit an eine der Sekretärinnen weitergeben können. Er hatte es bleiben lassen, denn zum einen waren sie nur unwesentlich schneller als er, zum anderen half es ihm, das Gespräch noch einmal komplett durchzuhören und dabei mitzuschreiben. Eine eigentlich stupide Tätigkeit, die in Schröders Augen allerdings etwas Meditatives hatte.
Stapics Stimme klang blechern aus dem Kopfhörer und mischte sich mit dem leisen Klappern der Tastatur.
»Glauben Sie, dass ich meine Bar selbst in die Luft gesprengt habe, Herr Kommissar?«
Schröder schrieb schnell und konzentriert. Dabei starrte er unverwandt auf den Monitor seines Rechners.
»Ich lebe seit fast zwanzig Jahren in Deutschland. Selbst ein
Weitere Kostenlose Bücher