Zorn - Tod und Regen
verlief die Straße, ein Auto fuhr vorbei, die Scheinwerfer strichen hell über die bröckelnde Fassade.
Es ist sinnlos, ich spiele hier Räuber und Gendarm, dachte er resigniert und wollte weitergehen. Da bemerkte er einen Pfad, der direkt zu einer Öffnung in der Mauer führte. Er lauschte. Wieder hörte er die Stimmen, diesmal waren sie wesentlich näher. Eine verrostete Tür hing schief in den Angeln. Er zwängte sich leise hindurch, lugte nach innen und sah den breiten Rücken von Mirko Stapic. Zwei, drei Schritte, und er konnte ihn mit der Hand an der Schulter berühren. Zorn zuckte erschrocken zurück und verzog sich in den sicheren Schatten.
Die Erkenntnis traf ihn völlig unvorbereitet. Zorn wusste nicht, woher, aber in diesem Moment, als er frierend auf dem nassen Boden hockte, begriff er plötzlich, was geschehen war. Warum Henning Mahler nicht zur Polizei gegangen war. Es war der Blitz aus heiterem Himmel, der unerwartet einschlug und ihm für kurze Zeit den Atem nahm. Das Puzzle fügte sich zusammen.
Er beugte sich vor und lauschte angestrengt.
»Du bist nicht in der Position, irgendwelche Forderungen zu stellen«, sagte Stapic gerade. Seine Stimme hallte von den hohen Wänden wider.
»Doch«, erwiderte Mahler. »Du denkst, ich wäre der Letzte, der deine Identität kennt. Du glaubst, dass du in Sicherheit bist, wenn du mich tötest.« Mahler hob die Stimme unmerklich. »Aber ich bin nicht der Einzige, der dich auffliegen lassen kann.«
Henning hat mich gesehen, dachte Zorn. Er weiß, dass ich hier bin. Ich muss etwas tun.
»Sei nicht albern, Jungchen.« Stapic klang erheitert. »Der Einzige, der außer dir von mir wusste, liegt mit zertrümmertem Schädel und durchtrennter Kehle auf dem Friedhof.«
Zorn ging in die Knie und schob sich vorsichtig wieder nach vorn. Mahler hielt die Waffe auf Stapic gerichtet, der wiederum mit der Schrotflinte auf Ella Mahler zielte.
Zentimeter für Zentimeter kroch Zorn näher. Der Regen übertönte das Rascheln seiner Jacke, er versuchte, langsam und gleichmäßig zu atmen, obwohl sein Herz bis zum Hals schlug. Als er direkt hinter Stapic war, richtete er sich langsam auf. Mahler musste ihn die ganze Zeit zumindest aus den Augenwinkeln gesehen haben, hielt den Blick aber unverwandt auf den ahnungslosen Kroaten gerichtet.
Claudius Zorn fasste das Eisenrohr mit beiden Händen.
»Vielleicht ist Sauer nicht der Einzige, der mit zertrümmertem Schädel endet«, sagte Mahler zu Stapic.
Zorn hob das Rohr hoch über den Kopf und hielt die Luft an.
»Wie meinst du das, Jungchen?«
Es kribbelte in Zorns Kehle, er schluckte krampfhaft, um den Hustenreiz zu unterdrücken.
»So, wie ich’s gesagt habe«, antwortete Henning Mahler ruhig.
Ich muss mich nur noch einen Moment konzentrieren, dachte Zorn. Einen kurzen Moment.
»Manchmal«, fuhr Mahler fort, »muss man sich eben schnell entscheiden und darf keine Sekunde zögern.«
Das Rohr bebte in Zorns schweißnassen Händen.
»Was erzählst du da für einen Schwachsinn?«, fragte Stapic misstrauisch. Zorn sah, wie sich sein breiter Rücken straffte. Er zielte auf eine Stelle unterhalb des Nackens. Sah eine Ader, die direkt hinter Stapics Ohr leise pulsierte.
»Das ist kein Schwachsinn, Sivo.«
Jetzt, dachte Zorn und umklammerte das Eisen mit aller Kraft.
Dann kam der Husten. Ein kurzes, heiseres Bellen.
Stapic wirbelte herum.
Den Bruchteil einer Sekunde sah Zorn direkt in die dunklen Augen des Kroaten, unfähig, sich zu bewegen. Stapics Hand schnellte nach vorn und schnappte nach seiner Kehle.
So ist es also, wenn man stirbt, schoss es Zorn durch den Kopf. Das Rohr entglitt seinen Händen.
Bevor es auf den Boden aufschlug, hatte Mahler dem Kroaten den Griff seiner Waffe über den Hinterkopf gezogen.
Stapic stürzte zu Boden wie ein gefällter Baum. Sofort kniete Henning Mahler über ihm.
»Wie lange wolltest du eigentlich noch warten, Claudius? Bis Weihnachten? Oder wolltest du ihn zu Tode husten?«
Er legte die Pistole auf den Boden und holte ein Bündel Kabelbinder aus der Tasche. »Schnell, wir müssen ihn fesseln, bevor er zu sich kommt.«
Zorn bückte sich, nahm die Waffe und richtete sie wortlos auf Mahlers Stirn. Der sah verständnislos zu ihm auf.
»Was soll die Scheiße, Claudius?«
»Henning Mahler, ich verhafte dich wegen des Mordes an Sigrun Bosch.«
*
Kurz vor halb ein Uhr Morgens betraten zwei völlig durchnässte, schlechtgelaunte Streifenpolizisten die
Begehbar
von Mirko Stapic. Vier
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