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Zorn - Tod und Regen

Zorn - Tod und Regen

Titel: Zorn - Tod und Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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lachen.
    Allerdings nur kurz, denn als er auf den Parkplatz vor dem Präsidium einbog, war er schlecht gelaunt wie immer.

Fünf
    Die alte Papiermühle stand am westlichen Ufer des Flusses, dessen träge dahinströmendes Wasser die Stadt schon im Mittelalter in zwei Hälften getrennt hatte. Seit über siebzig Jahren lag das Gelände jetzt brach, und es geschah selten, dass sich ein einsamer Spaziergänger in die Ruinen der uralten Backsteingebäude verirrte.
    Der Mann, der jetzt mit hochgezogenen Schultern den schmalen, mit Brombeeren überwucherten Pfad hinab zur Mühle stapfte, war ebenfalls selten hier. Dies war der Weg, den er als Kind immer genommen hatte, wenn er baden ging. Damals, als der Fluss noch sauber gewesen war.
    Das war lange, sehr lange her. Jetzt war er 82. Ein grauer, alter Labrador trottete hinter ihm durch den Regen und versuchte müde, Schritt zu halten.
    Oft werde ich wohl nicht mehr hierherkommen können, dachte der Alte und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um nicht auf den nassen Porphyrsteinen auszurutschen. Wenn ich mir hier irgendwas breche, hört mich niemand schreien, und ich sterbe hilflos, nur ein paar Meter von zu Hause entfernt.
    Er wohnte in einer der Gründerzeitvillen, die sich ein kurzes Stück flussaufwärts befanden. Vor ein paar Jahren noch hatten ihn seine täglichen Spaziergänge wesentlich weiter, bis zum Bootshaus oder zur Neustädter Fähre geführt. Meist hatte er in einer der Uferkneipen ein, zwei Bier getrunken und gewartet, dass der Tag verging. Mittlerweile spürte er jeden Schritt in den Knochen, der Hund war immer schwerer zu bewegen, das Haus zu verlassen, und so war es nur folgerichtig, dass er kaum noch vor die Tür kam.
    Meine Kreise werden enger, dachte er und hielt inne, um ein wenig zu verschnaufen. Er stand auf einer kleinen, mit Schutt und verrottendem Müll übersäten Lichtung, drei Meter oberhalb des Kanals, der früher das Wasser in die Mühle geleitet haben musste. Links von ihm ragte die geborstene Außenmauer in die Höhe. Ein vorwitziger Sprayer hatte sich mit dem Spruch
Boyzone East
2009
!
verewigt. Das riesige rosafarbene Graffiti wirkte seltsam fehl am Platz inmitten dieses Ortes, den seit Jahrzehnten niemand betreten zu haben schien.
    Als der alte Mann aufsah, erblickte er hoch oben, da, wo früher irgendwann einmal die Dachrinne gewesen sein musste, eine mannshohe Birke, die in zehn Metern Höhe ihre kümmerlichen Zweige in den grauen Himmel reckte.
    Die Hängenden Gärten der Semiramis, dachte er. Ein wenig morbide, aber irgendwie schön.
    Ein leises Jaulen riss ihn aus seinen Gedanken. »Komm, mein Alter«, sagte er und tätschelte dem Labrador den Kopf, »hier kannst du pinkeln, dann geht’s zurück ins Warme.« Der Hund sah ihn aus triefenden Augen an, schüttelte sich kurz, rührte sich ansonsten aber nicht von der Stelle. Du wirst langsam genauso starrsinnig wie ich, dachte der Alte und sagte unwirsch: »Ja ja, es ist nass und die Disteln pieksen dir in den Hintern, das lässt sich nicht ändern, also mach!«
    Natürlich konnte er nicht ahnen, dass er in diesem Moment exakt noch viereinhalb Minuten zu leben hatte. Wäre ihm dies bewusst gewesen, hätte er vielleicht einen letzten Blick nach oben geworfen, auf die grauen, zerrissenen Wolken, die von Osten immer mehr Regen brachten und tief über den dunklen Himmel jagten.
    So aber gab er dem Hund einen weiteren ungeduldigen Befehl, dieser bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick und stakste dann steifbeinig ins Gebüsch, neben dem eine kleine Treppe hinunter zum Wasser führte.
    Ein kalter Windstoß strich über die Lichtung, fröstelnd zog der Alte seinen Hut tiefer ins Gesicht, wartete einen Moment und rief den Hund zurück, doch das Einzige, was er zu hören bekam, war das stetige Rauschen des Flusses. Leise schimpfend begann er, die Treppe hinunterzusteigen. Die bestand nur aus einem Dutzend mit Glasscherben und Unrat bedeckten, glitschigen Backsteinstufen und führte zu einem schmalen, betonierten Uferstreifen, doch als er unten angekommen war, atmete er schwer, der Rücken schmerzte, und im linken Knie verspürte er ein heftiges Pochen.
    Wieder rief er den Hund, der rechts von ihm mit einem lauten Bellen antwortete. Ein knorriger Fliederbusch verdeckte die Sicht. Vorsichtig bog er die Äste zur Seite, fluchte, als ihm ein feuchter Zweig geradewegs ins Gesicht klatschte. Dann sah er den Hund, der in einigen Metern Entfernung vor einer Bank hockte. Das Bellen war in

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