Zorn - Tod und Regen
zufrieden.
»
Matthäuspassion
.«
»Was?«
Schröder straffte den kleinen, runden Körper und schnarrte: »
Matthäuspassion
, Johann Sebastian Bach, ein Choral namens ›O Haupt voll Blut und Wunden‹, eine Aufnahme von 1992 unter Leitung –«
»Was soll das bedeuten?«, unterbrach Zorn genervt.
»Das bedeutet, dass ich bereits …«, Schröder machte eine winzige Pause, »… eruiert habe.«
Zorn, der wusste, wann er verloren hatte, drückte die Zigarette aus: »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«
»Weil du mich nicht gefragt hast, Chef.«
»Ich will die CD in zehn Minuten auf meinem Schreibtisch.«
»Selbstverständlich«, sagte Schröder, wandte sich zum Gehen und hielt kurz inne. »Da wären noch zwei Sachen, Chef.«
»Ja?«
»Wir haben einen Selbstmord in der Gartenstadt.«
Zorn straffte unwillkürlich den Rücken. »Was ist passiert?«
»Eine Frau, siebenunddreißig, verheiratet, zwei Kinder.«
»Wie?«
»Hat sich die Pulsadern aufgeschnitten.«
»Bisschen viel Blut in den letzten Tagen, oder?«
»Allerdings, Chef.«
»Du fährst hin und nimmst dir den Ehemann vor.«
»Sehr wohl.«
»Was war das Zweite?«
»Du hast in zehn Minuten einen Termin bei Sauer«, erwiderte Schröder und schickte sich an, das Büro zu verlassen.
»Moment!«, rief Zorn und sprang auf.
»Ja?«
»Gartenstadt mach ich selbst.«
Schröder wurde blass, denn er ahnte, was auf ihn zukam. Er räusperte sich und fragte: »Was ist mit …«, ein erneutes Räuspern, »… dem Staatsanwalt?«
»Den übernimmst du.«
»Aber Chef …« Auf Schröders Oberlippe bildeten sich winzige Schweißtröpfchen. »Sauer erwartet, dass du persönlich …«
»Bestell ihm schöne Grüße und sag ihm«, Zorn kratzte sich am Hinterkopf, »ich würde eine Spur verfolgen.«
»Was denn für eine Spur?«
»Eine heiße.«
Claudius Zorn war nicht nur träge, sondern auch ein Feigling, der sämtlichen Problemen so weit wie möglich aus dem Wege ging. Aber so offensichtlich hatte selbst er sich noch nie vor einer unschönen Pflicht gedrückt. Schmollend schob Schröder die Unterlippe vor.
»Sonst noch was?«, blaffte Zorn.
»Nein, Chef«, sagte Schröder und schloss die Tür ein ganz klein wenig lauter als gewöhnlich.
*
Die Gartenstadt lag auf einer kleinen Anhöhe am nördlichen Ende der Stadt. Der Name der Siedlung war nichts anderes als eine euphemistische Umschreibung für eine Müllkippe, die irgendwann zugeschüttet, in kleine, überschaubare Parzellen geteilt und später relativ preisgünstig verkauft worden war. Durch das Gebiet führte eine schmale, im Regen glänzende Straße, an der sich links und rechts die Einfamilienhäuser duckten, die irgendwie den Eindruck machten, als würden sie gegen ihren Willen in dieser tristen Gegend herumstehen.
So sieht es also aus, das große Glück der kleinen Angestellten, dachte Zorn, bog in die Waldstraße ein und hielt an der Ecke vor der Nummer 12, einem Grundstück, das wie die meisten anderen von einer eckigen, fast mannshohen Ligusterhecke begrenzt wurde.
Er stieg aus, trat in eine Pfütze, zog fluchend die Lederjacke über den Kopf und öffnete ein niedriges, schmiedeeisernes Tor, an dem ein lackiertes Holzschild befestigt war:
Hier wohnen Ella, Tom, Clara und Henning Mahler
. Mit drei großen Schritten hatte er einen Plattenweg passiert, der über ein winziges Rasenstück führte. Rechts, auf einem überdachten Parkplatz, stand ein dunkelblauer Passat. Direkt vor dem Hauseingang wuchs eine zwei Meter hohe Blautanne.
Hier hängen sie im Winter bestimmt die Weihnachtskerzen auf, überlegte Zorn, wischte sich den Regen aus dem Gesicht und klingelte. Tief im Haus waren schlurfende Schritte zu hören.
Der hagere Mann, der kurz darauf öffnete, schien ungefähr in Zorns Alter zu sein, das volle, dunkelbraune Haar begann bereits zu ergrauen. Er war groß, ein Stück größer noch als Zorn, der selbst über eins achtzig war, wog allerdings mindestens fünf Kilo weniger. Eine graue Strickjacke bedeckte die schmalen, hängenden Schultern, darunter trug er ein weißes Hemd. Er sah müde aus und irgendwie dunkel, als hätte er die letzten Tage im Freien übernachtet. Dieser Mann hat gerade erst seine Frau verloren, ermahnte sich Zorn, ich sollte wenigstens versuchen, rücksichtsvoll zu sein.
»Henning Mahler?«, fragte er und zeigte seinen Ausweis.
Mahler nickte und winkte Zorn mit einer vagen Handbewegung ins Haus. Im Flur stand eine Kommode mit Hausschuhen, von der Decke
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