Zorn und Zärtlichkeit
er sie geschlagen. »Nein! Doch dazu wollte er mich machen... Ich flehe Euch an, Sir William, helft mir! Ich muss auf der Stelle abreisen!«
»Wer hindert Euch daran?«
»James MacKinnion. Er erlaubt mir nicht, allein abzureisen.«
Williams Augen verengten sich. »Ihr seid also seine Gefangene?«
Sie schlang die Hände ineinander und überlegte verzweifelt, wie sie ihm die Situation erklären sollte. »Die - die Sache ist ziemlich verwickelt, Sir William. Der Laird würde mich selbst nach Aberdeen zurückbringen - aber er gestattet es keinem anderen. Wenn ich also von hier weg will, muss ich mit ihm gehen - und ich möchte nicht mit ihm allein sein. Versteht Ihr? Ich fürchte mich vor ihm - und ich ertrage es nicht mehr, in diesem Schloss zu wohnen.«
»Und deshalb habt Ihr beschlossen davonzulaufen?«
»Ich will nach Aberdeen zurückkehren, zu meiner Tante. MacKinnion hat mir eine Probeehe vorgeschlagen, aber darauf lasse ich mich nicht ein. Trotzdem hält er mich hier fest. Werdet Ihr mir helfen, Sir William?«
»Eine Probeehe...« William runzelte nachdenklich die Stirn, dann lachte er freudlos. »Ja, ich helfe Euch, Fräulein. Es wird mir ein Vergnügen sein.«
Sein Gelächter missfiel ihr, doch sie schob ihre Bedenken beiseite. Wenn sie nicht mit Jameson ging, musste sie in James MacKinnions Haus bleiben.
21.
Colen hämmerte an die Tür zu Jamies Schlafzimer, dann stürmte er hinein. Sein Zorn war im Lauf des Tages stetig gewachsen und nun am Höhepunkt angelangt - nachdem er festgestellt hatte, dass der Südturm leer war. Das konnte und wollte er sich nicht bieten lassen.
»Ich habe dich gewarnt, Jamie...«
Colen verstummte, als er seinen Bruder auf dem Bett liegen sah - vollständig angekleidet und allein. Verwirrt schaute er sich um, ohne die Person zu entdecken, die er suchte.
Jamie setzte sich auf. »Willst du mir nicht sagen, was das soll?«
»Ich - ich dachte, ich würde Sheena hier finden«, stammelte Colen verlegen.
»So sehr ich mir auch gewünscht hätte, sie in meinem Zimmer anzutreffen - sie ist nicht da, wie du mit eigenen Augen feststellen kannst. Wieso dachtest du denn, dass sie bei mir wäre?«
»Ich habe euch beide heute am Teich beobachtet...«
»Also hast du mehr gesehen, als du mir verraten wolltest«, sagte Jamie nachdenklich. »Nun, wenn du nicht im ungeeigneten Augenblick aufgetaucht wärst, läge sie jetzt in meinen Armen.«
»Du hast geschworen, du würdest ihre Ehre wahren.«
»Diese Absicht hege ich immer noch. Ich möchte eine Probeehe mit ihr eingehen, und sobald ich mich vergewissert habe, dass sie nicht so ist wie meine erste Frau, werde ich sie heiraten.«
»Wenn sie dich will.«
»Immerhin hat sie mich heute nicht abgewehrt.«
Colen spürte, wie ihm die Kehle eng wurde. Nein, das hatte sie nicht getan, und deshalb war er den ganzen Tag so wütend gewesen. Ein schmerzhaftes Gefühl quälte ihn, das er bis jetzt nicht gekannt hatte - Eifersucht. Jamie würde siegen, obwohl Sheena ihn fürchtete. Und Colen war so sicher gewesen, dass sie seinen Bruder zurückweisen würde.
»Wo ist sie denn dann, Jamie?« fragte er niedergeschlagen.
»Wie meinst du das? Es ist schon spät. Sie müßte im Südturm sein.«
»Nein. Ich war dort - aber sie ist nicht da.«
»Sitzt sie noch in der Halle?«
Colen schüttelte den Kopf. »Bevor ich zu dir gekommen bin, habe ich überall nachgesehen. Sie ist nicht mehr im Schloss , Jamie. Das kann nur bedeuten...«
»Jameson«, fiel ihm Jamie ins Wort. Ein Instinkt hatte ihm den Schuldigen sofort verraten. Doch er blieb auf dem Betf sitzen, starrte vor sich hin, mit leerem Blick.
Colen verstand das Verhalten seines Bruders nicht. »Nun?« fragte er mit scharfer Stimme. »Willst du ihm nicht nachreiten?«
»Wir dürfen keinen Anspruch auf sie geltend machen, mein Junge«, entgegnete Jamie tonlos. »Und ich habe nicht das Recht, sie zurückzuholen.«
»Wie ich mich erinnere, hast du erklärt, du würdest dich für sie verantwortlich fühlen.«
»Nur, solange sie hier war.«
»Und wenn Jameson ihr etwas antut?« schrie Colen.
»Schluß mit diesem Unsinn! Glaubst du, ich will sie nicht zurückholen? Ich würde nichts lieber tun - aber mir sind die Hände gebunden. Wäre sie mit den MacKinnions befreundet oder verfeindet, könnte ich etwas unternehmen, doch die MacEwens sind weder das eine noch das andere. Das weiß Jameson. Womöglich würde er sich beim König beschweren, wenn ich ihm das Mädchen grundlos wegnähme. Das
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