Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)
Aber ihre Hand brennt, als würde sie in Flammen stehen.
Sie atmet ein. Und wieder aus.
Er soll denken, dass sie schläft. Dann tut er ihr vielleicht nicht mehr weh.
»Ich wollte dir nichts tun«, sagt Max, als habe er ihre Gedanken erraten. Sein Blick wandert über ihren Körper und fällt dann auf ihren linken Arm, der ausgestreckt neben der Matratze liegt. Die Spitze des Nagels ist kaum zu erkennen. Es blutet nur noch wenig, ein pulsierender, langsam versiegender Strom.
»Ich muss sicher sein, dass du hier bist, wenn ich wiederkomme.«
Max streicht behutsam über den Handrücken, prüft, ob der Nagel festsitzt.
Sie atmet scharf ein.
Es knirscht leise, als sie die Zähne zusammenbeißt.
Er lächelt schüchtern und winkt ihr noch einmal zu.
Dann fällt die Tür ins Schloss.
Dreißig
Es dauert nicht mehr lange bis Mitternacht.
Der künstliche See glitzert im Licht, die große Liegewiese liegt still und verlassen da. Zwischen den alten Weiden steht riesig der Mond. Er leuchtet hell, in einem schwefligen, schmutzigen Gelb, die Farbe erinnert an ranzige Butter. Man erkennt die Mondflecken, sie sehen aus wie Geschwüre im Gesicht eines unrasierten, aufgedunsenen Penners.
Die Fontäne ist seit Stunden abgeschaltet. In der Mitte des Sees schwimmt ein Schwan. Der lange Hals ist nach hinten gebogen, er hat den Kopf zwischen die Flügel gesteckt, langsam treibt er über den See, sein schneeweißer Körper wirft einen scharfen Schatten auf die glatte Wasseroberfläche.
Vom Spielplatz her nähern sich Schritte. In den Baumwipfeln wird es unruhig, ein Vogelschwarm wird aufgeschreckt, große, schwarze Tiere, ihr Flügelschlag ist laut, ein fettiges Klatschen, sie kreisen kurz über den Bäumen, dann ziehen sie über den Fluss nach Westen ab.
Eine Gestalt erscheint, sie trägt einen Kapuzenpullover, ein großer Hund trottet müde nebenher. Als er das Wasser wittert, zerrt er wie verrückt an der Leine. Er rennt zum See, trinkt kurz, doch nach wenigen Sekunden wird er mit Gewalt zurückgerissen. Seine Hinterbeine knicken ein, er stößt ein tiefes Knurren aus.
Ein hohes Surren, gefolgt von einem heftigen Schlag. Eine kurze Stahlrute trifft den Hund an der empfindlichen Schnauze. Das Knurren geht in ein ängstliches Winseln über.
Die Gestalt sieht sich um.
Das Seeufer ist von einem Asphaltweg umgeben, dahinter wächst mannshohes Gebüsch, Weißdorn, Flieder und Hagebutten. Trampelpfade führen in die Dunkelheit, in den Zwischenräumen stehen Bänke, tagsüber sitzen hier die Rentner und schauen der Fontäne zu. Jetzt ist niemand hier.
Eine Wolke zieht vorbei und verdeckt den Mond.
Als er wieder zum Vorschein kommt, ist die Gestalt verschwunden.
Es dauert nicht mehr lange bis Mitternacht.
*
»Weißt du, ich komm mir vor wie ein zerkochtes Würstchen. Irgendwie wird das alles zu viel für mich, verstehst du?«
Schröder nickte schweigend. Unter der Kastanie war es dunkel, nur ab und zu glühte Zorns Zigarette auf. Das Präsidium hinter ihnen war hell erleuchtet. Zorn hockte mit hängenden Schultern auf der Bank, mit den Händen hielt er das Holz umklammert, es sah aus, als würde er jeden Moment vor Müdigkeit zur Seite kippen.
»Ich würde jetzt wirklich gern nach Hause fahren. Ist das okay?«
»Was, Chef?«
»Dass ich jetzt gehe.«
»Das hast du mich noch nie gefragt.«
»Aber gedacht.«
Schröder lächelte.
»Ich weiß, Chef.«
Auf der Hauptstraße rumpelte eine Straßenbahn durch die Nacht. Die Bank bebte leicht, Zorn lehnte sich zurück und schloss die Augen.
»Es ist beschissen, wenn man einen Menschen auf dem Gewissen hat.«
»Das hast du nicht.«
»Hab ich doch.«
Schröder holte tief Luft.
»Hör zu, Chef«, sagte er und es klang fast ein wenig gereizt. »Wir haben bereits darüber gesprochen, aber ich erklär’s dir gern noch mal: Du hattest keine Wahl auf dem Turm, du hast richtig gehandelt. Dein Selbstmitleid hilft uns nicht weiter, es bringt nichts, wenn du dir Vorwürfe machst. Dafür hast du den Rest deines Lebens genug Zeit, wenn das alles hier vorbei ist.«
Komisch, überlegte Zorn, das kommt mir bekannt vor. Hab ich neulich nicht genau dasselbe gedacht? Klar, ich müsste mich zusammenreißen, aber ich schaff’s einfach nicht. Es ist, als wäre ein Zahnrad in meinem Kopf ausgehakt, ich kann an nichts anderes denken, immer und immer wieder: Die Schuldgefühle wegen des Priesters, dazu kommt das verschwundene Mädchen. Und Max. Er ist der Täter, jetzt, wo wir das Phantombild
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