Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)
regelrecht, so laut, dass es bis ans andere Flussufer zu hören war.
Ein weiterer Schlag.
Der Hund wusste weder, was mit ihm geschah, noch, wie lange er dort im Baum hing. Er kannte nur den Drang, den Hieben auszuweichen. Und das versuchte er. Vierzig Kilo Fleisch, Sehnen und Muskeln gerieten in Bewegung, zerrten an den Fesseln in dem vergeblichen Bemühen, festen Boden zu erreichen. Der Baum bebte unter der Erschütterung, Blätter fielen herab.
Max hatte eine Hand in die Hüfte gestützt, mit der anderen schlug er zu, gleichmäßig, hart, in kurzen Abständen, wie ein Fechter beim Training. Die Schläge prasselten immer dichter, trafen den Kopf, die Schnauze, peitschten über die Flanke des Hundes. Wahnsinnig vor Schmerz biss das Tier um sich, Brandt bog den Rücken durch, lehnte sich so weit wie möglich nach hinten, doch auch er wurde immer wieder getroffen. Das Fell des Hundes verfärbte sich, wurde feucht und dunkel. Der Mensch, der sich unter der Wucht der Schläge krümmte, war blutüberströmt, seine Haut glänzte im Mondlicht.
Das Keuchen des Jungen erfüllte die Lichtung, dazu kamen das Pfeifen der Hiebe, die Krallen, die das Fleisch des Bibliothekars aufrissen und ein helles Klackern, das an das Geräusch einer kaputten Nähmaschine erinnerte. Das waren die Zähne des Hundes, die immer schneller aufeinander schlugen.
Ein letzter, fürchterlicher Schlag traf den Hund zwischen die Ohren.
»Mach’s gut, Papa«, sagte Max.
Dann verbiss sich der Hund im Gesicht des Bibliothekars.
*
»Du musst in ein Krankenhaus«, sagte Herr Kalze. »Aber dazu muss ich deine Hand losmachen.«
Martha Haubold antwortete nicht. Zunächst hatte er gedacht, sie sei tot. Reglos lag sie da, wächsern wie eine Mumie.
»Verstehst du mich? Ich habe kein Handy, niemand ist in der Nähe. Ich kann also keine Hilfe rufen, und ich will dich nicht alleine lassen. Wir müssen dich tragen. Ein paar hundert Meter nur, dann sind wir an der Straße. Dort steht mein Auto.«
Der Gestank war fürchterlich. Es roch wie im Raubtierhaus, nein, schlimmer, die Mischung aus Urin, Fäulnis und Moder war überwältigend. Das war Herrn Kalze egal. Er war zwar alt und verstockt, doch im Grunde seines spießigen Kleingärtnerherzens war er ein guter Mensch.
»Verstehst du mich?«, wiederholte er.
Sie nickte schwach.
Er hatte die Zange schon in der Hand.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte Herr Kalze.
Sie schrie auf, als er sie befreite.
Er hob sie hoch. Seine Gelenke kreischten unter ihrem Gewicht, doch er lief los.
Herr Kalze war ein guter Mensch.
*
Ein Uhr morgens.
Vom Fluss her ist Wind aufgekommen, der See gerät in Bewegung. Kleine, schaumige Wellen schwappen ans Ufer, die Zweige der Trauerweiden schwanken in der Brise. Irgendwo ist ein Papierkorb umgekippt, zwei, drei Zeitungsfetzen, eine leere Plastiktüte und eine große Motte treiben über die Liegewiese.
Eine weitere, stärkere Böe. Die Motte wird emporgewirbelt, dreht sich ein paarmal um sich selbst, fliegt höher, immer höher, umkreist eine Laterne, streift den Wipfel einer Weide und steuert schließlich direkt auf das Pumpenhäuschen zu. Dort erfasst sie ein neuer Windstoß, sie flattert über das Dach und landet im Geäst einer Rotbuche.
Unten hockt ein blonder Junge im Gras. Er lehnt mit dem Rücken am Stamm, sein Atem geht heftig, er schwitzt wie ein Boxer nach einem schweren Kampf. Über ihm hängt etwas an einem Seil, ein dunkler, formloser Klumpen, man erkennt die schlaff herabhängenden Arme eines Menschen und etwas anderes, Kleineres. Etwas, das zu einem Tier gehören könnte.
Der Junge sieht nach oben. Das, was von Mensch und Hund übrig ist, schwingt sacht hin und her, wie das Pendel einer alten Uhr.
»Ich bin traurig«, sagt der Junge.
Der Ast über ihm knackt leise.
»Jetzt muss ich gehen.«
Er stemmt sich hoch, die Stahlrute fällt neben ihm ins Gras. Die Motte flattert auf, schwebt torkelnd nach unten und landet auf dem Unterarm des Jungen. Langsam hebt er den Arm und sieht zu, wie das Insekt emporwandert, den Handrücken entlang, bis es den Zeigefinger erreicht.
»Hau ab«, sagt der Junge und reckt den Finger hoch in die Luft.
Die Motte spreizt die Flügel. Die Schuppen glitzern im Mondlicht wie winzige, kostbare Edelsteine.
»Mach schon.«
Sie fliegt los. Er schaut ihr nach, bis sie in der Nacht verschwunden ist.
»Grüß meinen Papa.«
Jetzt geht er los, mühsam zwängt er sich durch das Gebüsch.
Er sieht sich nicht noch einmal
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