Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)
konnte. Das ist nun auch schon wieder zehn Jahre her, überlegt er. Sie wollte unbedingt im Garten schlafen, wenigstens ab und zu. Jetzt hat er den Salat. Keinen Platz und keine Ruhe.
Nun ja, Ruhe hat er zu Hause auch nicht.
Frau Kalze setzt sich auf, die Matratze reagiert mit einem vorwurfsvollen Quietschen. »Aber doch nicht diese Hottentottenmusik , und dann noch in dieser Lautstärke! Eine Frechheit, hab ich nicht recht?«
Das hat sie ausnahmsweise wirklich. Um diese Zeit herrscht sonst Nachtruhe. Der Lärm kommt vom anderen Ende der Gartensparte, woher genau allerdings, kann man unmöglich sagen.
»Ich wette«, sagt Frau Kalze, »das sind die Kerns, die haben nichts anderes als Feiern im Kopf.«
Herr und Frau Kern sind die neuen Pächter, Frau Kalze kann die beiden nicht ausstehen. Vor allem die Frau nicht, sie ist zwanzig Jahre jünger und mindestens dreißig Kilo leichter als Frau Kalze.
Das Wummern wird lauter.
»Würdest du vielleicht mal rübergehen?«, fragt Frau Kalze. »Und gucken, was los ist?«
Nein, dazu hat Herr Kalze überhaupt keine Lust. Eine Variante wäre, sich tot zu stellen. Das würde sie ihm nie abnehmen, also stellt er sich nicht tot, sondern schlafend. Und gibt ein schüchternes Schnarchen von sich.
Frau Kalze tippt ihren Mann auf die Schulter.
»Tu nicht so.«
»Was?« Herr Kalze versucht, verschlafen zu klingen.
»Mach gefälligst was!«
Sie zieht ihrem Mann die Bettdecke weg.
Er setzt sich ebenfalls auf. »Ich hör nix mehr.«
Die Musik ist aus.
»Die wissen genau, wie sie einen zur Weißglut treiben«, sagt Frau Kalze, klopft energisch das Kopfkissen zurecht und legt sich wieder hin.
»Schlaf jetzt«, sagt Herr Kalze und zieht sich die Decke über den Kopf.
*
»Ruhig, Udo. Es hat keinen Sinn, wenn du dich wehrst.«
Diese Stimme, dicht an seinem Ohr. Er kennt sie. Natürlich, sie ist ihm vertraut, er hat sie schon tausendmal gehört, aber sie klingt anders. Kehlig, heiser, nur ein paar Zentimeter entfernt. Nicht viel mehr als ein Flüstern. Aber es schwingt etwas mit, das ihn frösteln lässt. Wut, Hass. Und Wahnsinn.
Sein Kopf dröhnt, es fühlt sich an, als wäre er bis unter die Schädeldecke mit einer staubigen Masse gefüllt. Mehl vielleicht. Weit, ganz weit entfernt am Horizont, flimmernd wie eine Fata Morgana, erscheint die verschwommene Frage nach dem Warum . Die alles entscheidende Frage nach dem, was hier eigentlich passiert. Doch sein Hirn, von Natur aus schon nicht mit Schnelligkeit gesegnet, hat den Dienst eingestellt. Weigert sich, ihm zu erklären, was hier mit ihm geschieht.
Er sitzt da, die Beine sind leicht angewinkelt, die Hände weit ausgestreckt. Seine Handgelenke sind gefesselt und mit Stricken an den Geländern befestigt, die links und rechts an der Plattform angebracht sind und verhindern sollen, dass einer der Badegäste seitlich in die Tiefe stürzt. Er kann nichts sehen, seine Augen sind mit Klebeband verschlossen, ebenso der Mund. Es juckt fürchterlich, er bewegt die Augenbrauen, versucht, den Mund zu öffnen. Sinnlos, das Klebeband sitzt fest.
»Steh auf.«
Udo Kempff schnaubt, schüttelt heftig den Kopf. Er weiß nicht, was hier geschieht, vielleicht ist es ein Spiel, aber irgendetwas sagt ihm, dass es ernst ist. Und dass er versuchen muss, sich zu wehren.
Im nächsten Moment kommt der Schmerz, als würden seine Nieren explodieren. Der Tritt ist so heftig, dass er ein paar Sekunden die Besinnung verliert.
»Steh auf, Udo. Ich sag’s dir nicht noch mal.«
Er schafft es, auf die Knie zu kommen. Es fällt ihm schwer, er kann sich nicht mit den Händen abstützen. Schließlich steht er schwankend auf der Plattform. Ein Ruck, erst links, dann rechts, die Fesseln werden gestrafft, seine Arme sind jetzt weit vom Körper abgespreizt. Als hätte er die Hände zum Gebet ausgebreitet. Plötzlich fällt ihm auf, dass es still ist im Bad. Die Musik aus der Gartenanlage ist verstummt.
»Ich hab etwas mitgebracht, Udo. Zwei Sachen, eine wird dir gefallen. Die andere nicht, fürchte ich.«
Er hört seinen eigenen, panischen Atem. Dann ein Scharren, Plastik auf Beton, Flüssigkeit schwappt in einem Kanister.
»Fangen wir mit dem an, was du magst.«
Ein Klicken, eine Taste wird gedrückt, wahrscheinlich ein Ghettoblaster oder etwas Ähnliches, denn plötzlich erklingt direkt neben ihm Musik. Nicht sehr laut, aber er erkennt die Band sofort.
»Das magst du, nicht wahr?«
Es stimmt, das ist sein Lieblingssong. Eine Akustikgitarre, nur zwei
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