Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)
Akkorde, sie wechseln ständig: G-Dur und e-Moll. Das weiß Udo nicht, er ist völlig unmusikalisch. Doch selbst, wenn er es wüsste, es wäre ihm im Moment völlig egal.
Die erste Strophe beginnt.
The roof, the roof, the roof is on fire.
Die Bloodhound Gang. Jetzt wird die Angst zur Panik, flattert in seiner Brust wie ein verletztes Küken. Er kennt den Refrain. Sein Englisch ist beschissen, aber er weiß, was da gesungen wird. Er hat oft genug mitgegrölt.
»Ich hab’s dir nie gesagt, aber ich hasse diese Musik.«
Die Stimme kommt jetzt von der anderen Seite, er spürt den warmen Atem direkt an seinem Ohr. Er zerrt an den Seilen, seine Armmuskeln sind bis zum Zerreißen gespannt. Rotz läuft aus seiner Nase, dieses Jucken macht ihn fast verrückt. Und die Angst.
Das Schlagzeug setzt ein. Und eine E-Gitarre, der Beat stampft wie eine Lokomotive in voller Fahrt.
»Das gefällt dir, oder?«
Udo Kempff kneift die Augen zusammen, so fest er kann, dann reißt er sie so weit wie möglich auf, immer und immer wieder, Öffnen, Schließen, in der Hoffnung, dass sich das Klebeband löst. Er will etwas sehen, er will richtig atmen. Vergeblich.
»Ich fragte, ob dir das gefällt, Udo.«
Wieder ein Tritt, diesmal von vorn, in den Magen. Seine Knie geben nach, die Seile verhindern, dass er zusammenbricht.
»Komm wieder hoch. Der nächste Tritt geht in deine verdammten Eier.«
Udo Kempff nimmt alle Kraft zusammen und richtet sich wieder auf. Er hört zwei Schritte, dann wird etwas aufgeschraubt. Der Kanister. Das Schwappen einer Flüssigkeit. Er kennt diesen Geruch. Und er weiß, was jetzt passieren wird.
Das Schlagzeug stampft. Die Band wird schneller.
But if I go to hell I hope I burn well.
Er wird nicht jammern, und auch nicht betteln.
»Jetzt kommen wir zum unangenehmen Teil.«
Etwas wird ihm über den Kopf geschüttet, das Klebeband verhindert nicht, dass ihm der Inhalt des Kanisters in die Augen dringt, in die Nase und in den Mund. Der beißende Gestank raubt ihm den Atem. Die Dämpfe, die über die Nase den Weg in seinen Kopf finden, ätzend wie Säure, töten auch noch den letzten klaren Gedanken ab. Er versucht sich abzuwenden, dreht sich hin und her, doch es hört erst auf, als der leere Kanister mit einem hohlen Ploppen wieder abgestellt wird. Udo Kempff ist völlig durchnässt, die Haare, das T-Shirt, auch die Shorts.
»Du hast natürlich keine Ahnung, warum ich das tue. Und ich habe keine Lust, es dir zu erklären, du würdest es doch nicht kapieren. Bist du bereit?« Eine kurze Pause. »Natürlich bist du das.«
Die Musik wird lauter. Trotzdem ist das Klicken des Feuerzeugs deutlich zu hören.
We don’t need no water let the motherfucker burn!
»Mach’s gut, Udo.«
Im ersten Moment geschieht nichts. Und eine letzte, glückliche Sekunde glaubt er, dass das alles nur ein böser Scherz ist. Dann gibt es eine leise Verpuffung, und die Plattform erstrahlt in hellem, gelblichem Licht.
Burn, motherfucker, burn.
Udo Kempff steht in Flammen.
Der plötzlich einsetzende Luftzug reißt seine Haare in einem feurigen Orkan nach oben, allerdings nur kurz, denn im Bruchteil einer Sekunde sind sie verbrannt, ebenso seine Augenbrauen. Das T-Shirt, die Shorts hängen in glühenden Fetzen an seinem Körper, werden emporgerissen, rieseln als feuriger Regen aus Ruß und Asche vom Turm und verteilen sich unten auf der Liegewiese rund um den Kiosk. Udo Kempff zerrt an den Fesseln, kugelt sich im Todeskampf den linken Arm aus, seine Blase entleert sich, er schreit, brüllt, bettelt, schließlich geht sein Winseln im Tosen des Feuers unter, gedämpft vom Klebeband vor seinem Mund, das den Flammen vorerst standhält und nur an den Rändern verkohlt.
Das Feuer lodert höher, ein, zwei Meter über dem Kopf von Udo Kempff schlagen die Flammen zusammen, eine riesige, rauchende Fackel steht oben auf dem Turm, sie bewegt sich, bäumt sich ein letztes Mal auf, der Widerschein erleuchtet das Kinderbecken und die Kronen der Pappeln, die über die Wiese verteilt sind.
Dann ändern sich die Farben. Die Flammen werden kleiner, das Gelb wird zu einem fluoreszierenden Blau, eine schwarze, fettige Rauchwolke hängt über dem Turm und verdeckt den Mond, der wie ein entzündetes Auge am Nachthimmel steht.
Oben, auf dem Turm, kommt die Band langsam zum Ende.
C’mon party people, throw your hands in the air.
Es wird still im Bad.
Irgendwo beginnt eine Grille zu zirpen.
Im Sprungbecken, am Fuß des Turms, ist ein leises Zischen
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