Zorn - Wo kein Licht
von Chlor und Salz spürte er im Mund.
Er hatte zu Czernyk gesagt, dass er wisse, wo er sei, und das stimmte auch. Es war fast vierzig Jahre her, und doch hatte er das alte Solbad sofort erkannt. Damals war er noch ein Kind gewesen, nicht älter als sieben, vielleicht auch acht, er hatte eine Erkältung gehabt, seine übervorsichtige Mutter war sofort mit ihm zum Arzt gegangen. Der hatte eine leichte rezidivierende Sinusitis festgestellt, es war komisch, Zorn konnte sich noch genau an diesen Begriff erinnern, es hatte bedrohlich geklungen, fast tödlich, obwohl es sich um nicht mehr als einen Schnupfen gehandelt hatte. Aber der kleine Claudius war stolz gewesen.
»Ich komme morgen nicht in die Schule«, hatte er Nicole Schlottig aus der 2b erklärt und dann mit bedeutungsvollem Schniefen hinzugefügt: »Vielleicht sogar nie mehr. Ich habe eine rezidivierende Sinusitis.«
Wie oft er hier gewesen war, wusste er nicht mehr, doch die Bilder hatte er noch deutlich im Kopf. Die Patienten waren in Gruppen in die Halle geführt worden, alles war voller Nebel, die Sole waberte in dichten Schwaden durch den Raum. Sie hatten Plastikumhänge mit großen Druckknöpfen getragen, die Kapuze hatte ihm tief in die Stirn geragt, langsam war er mit den anderen um den Brunnen gegangen, den Mund fest geschlossen, brav hatte er, wie seine Mutter ihm befohlen hatte, die salzigen Dämpfe durch die Nase inhaliert. Er erinnerte sich, dass er sich ein wenig gegruselt hatte, die anderen sahen aus wie Gespenster, der Fußboden war feucht gewesen, mit kleinen Schritten hatte er seine Runden gedreht, vorsichtig, um auf den nassen Fliesen nicht auszurutschen.
Schon damals war das Gebäude alt gewesen, die Farbe an den geschwungenen Fenstern war abgeplatzt, Risse hatten sich durch die gemauerten Bögen gezogen. Wenig später war das Bad geschlossen worden, danach hatte der endgültige Verfall eingesetzt, unterstützt von emsigen Handwerkern, die nach und nach alles, was ihnen brauchbar erschien, aus dem ehrwürdigen Gebäude trugen, angefangen bei den Möbeln, den kunstvoll verzierten Wasserhähnen und den geschnitzten Kleiderhaken über die gusseisernen Waschbecken, die Jugendstilfenster und die Heizkörper. Selbst die Fliesen waren teilweise aus dem Boden gebrochen und in den Bädern der umliegenden Häuser verbaut worden. Dann hatte man die Fenster zugemauert, einen Zaun um das Gelände errichtet und diesen Ort aus dem Gedächtnis der Menschen gestrichen.
Auch Claudius Zorn hatte das alte Solbad längst vergessen gehabt.
Jetzt war er wieder hier.
Czernyk hatte ihn niedergeschlagen und in eine Badezelle gesperrt. Ja, Zorn hatte sich sogar befreien können, hatte es geschafft, die Tür mit dem Fuß eines Plastikspielzeugs zu öffnen, aber was hatte das gebracht? Jetzt stand er hier wie ein Idiot, an einen alten Fensterrahmen gefesselt, ohne die geringste Möglichkeit, etwas zu tun.
»Scheiße!«
Er trat gegen den Rahmen.
Das Metall bewegte sich nicht.
Aber sein Fuß tat weh, immerhin.
*
Schröder stand in der Diele und knöpfte den Mantel zu. Er nahm einen karierten Schal vom Haken, ging zum Garderobenspiegel und wand ihn sorgfältig um den Hals.
»Es ist ein Fehler«, murmelte er seinem Spiegelbild zu. »Du darfst sie nicht allein lassen.«
Leise ging er noch einmal in die Wohnung seiner Eltern, öffnete die Schlafzimmertür einen Spalt und sah hinein. Die beiden schliefen, er sah ihre Umrisse unter den Decken, sein Vater schnarchte.
Eine Weile stand Schröder lauschend da, dann schloss er vorsichtig die Tür und verließ das Haus. Im Vorgarten blieb er noch einmal stehen und sah sich um. Die Fenster waren dunkel, die kleine Blautanne neben dem Eingang bewegte sich im Wind, Rauch stieg aus dem Schornstein und verlor sich schräg nach oben in der Nacht.
Alles war wie immer. Spießig, friedlich, ein wenig verträumt.
Noch.
*
Zorn verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere. Sein Schultergelenk zwickte, es war wirklich unbequem, die ganze Zeit mit erhobenem Arm herumzustehen. Ja, unbequem war wohl das passende Wort. Er hatte keine Schmerzen, jedenfalls keine schlimmen, der Kopf tat kaum noch weh. Langsam bekam er Durst, ein wenig kalt war ihm auch, obwohl er seine Jacke anhatte. Das allerdings ließ sich aushalten. Schlimmer war das Warten, Czernyk war erst vor ein paar Minuten gegangen, doch die Ungewissheit und das Gefühl, diesem Mann ausgeliefert zu sein, machten Zorn zu schaffen.
Er warf einen Blick auf den Tisch, sein
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