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Zorn - Wo kein Licht

Zorn - Wo kein Licht

Titel: Zorn - Wo kein Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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auseinander.
    Die Stille war unangenehm, die Luft schien elektrisch aufgeladen, vibrierte, als würde eine Hochspannungsleitung unter dem Tisch verlaufen. Zorn wartete geduldig, dass der Junge aufstand und sich verabschiedete. Jeder Vollidiot musste merken, dass er hier störte. Hermann offensichtlich nicht.
    »Hermann studiert Journalistik«, erklärte Malina.
    »Ach.«
    »Und er spielt Gitarre.«
    »Gleichzeitig?«
    Hermann lachte auf.
    »Nee, ich schreibe ab und zu ein bisschen. Und das mit der Musik läuft eher nebenbei.«
    Lass mich raten, dachte Zorn. Samstags triffst du dich mit deinen Kumpels in einem versifften Club und spielst Jazz, holst dir auf der Bühne vor ein paar Hanseln einen runter, säufst Rotwein und führst danach pseudointellektuelle Gespräche über verminderte Septimen, Sechsachteltakte und fünfsaitige Bassgitarren.
    Nee. Da sitz ich lieber im Büro und starre die Decke an.
    Der Kellner kam.
    »Die Herrschaften haben gewählt?«, fragte Luigi, der eigentlich Jürgen hieß. Er schien lange an seinem italienischen Akzent gefeilt zu haben, doch der thüringische, leicht singende Unterton war nicht zu überhören.
    »Ist die Tomatensuppe mit Fleisch?«, begann Hermann und strich die Haarsträhne aus dem Gesicht.
    » Si, Signore, mit Parmaschinken.«
    »Dann«, Hermann schüttelte den Kopf, »nehme ich nur das Käsebaguette.«
    Auch das noch, dachte Zorn, er ist Vegetarier. Ich bin müde, ich bin genervt und ich habe Hunger. Ich will meine Ruhe, mit Malina allein sein. Und ich will rauchen. Stattdessen sitze ich mit einem quarkfressenden Tofubratling am Tisch, einem Typen, der aussieht, als könne er mein Sohn sein. Und der offensichtlich nichts anderes im Sinn hat, als meine Freundin anzubaggern. Und sie lässt sich’s gefallen.
    Hermann hatte sich zu Malina gebeugt und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie lachte auf.
    Das gab den Ausschlag.
    »Lass uns gehen, okay?«
    Zorn war aufgesprungen und sah auf Malina hinab. Ihre Blicke trafen sich über dem Tisch. Ein stummes Duell, ein paar Sekunden nur, dann wusste Zorn, dass er verloren hatte.
    Wortlos schob er den Kellner zur Seite und stampfte davon.
    *
    Der schwere Ordner klappte zusammen. Es klang wie ein Pistolenschuss, dessen Echo vielfach von den Wänden des Badehauses zurückgeworfen wurde.
    Der Mann im durchsichtigen Regencape stand auf. Langsam musste er los, bald würde er vermisst werden, draußen, in der anderen Welt. Er sah auf seine Armbanduhr, ein paar Minuten hatte er noch.
    Gemächlich lief er um den Brunnen, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Drei Türen gingen von der Badehalle ab, eine, die größte, führte zum Ausgang, die anderen beiden lagen einander gegenüber. Von dort gingen die Gänge mit den Baderäumen ab, auf jeder Seite drei Dutzend kleine, geflieste Kammern, die gerade Platz für eine Badewanne boten. Von oben ergab das Solbad das Bild eines Hufeisens, im Zentrum die achteckige Halle, nach Osten und Westen schlossen sich die halbkreisförmigen, schmalen Flügel mit den Kabinen an.
    Vor einer der Türen blieb er stehen. Früher war sie verglast gewesen, die prächtigen Verzierungen waren längst gesplittert, das Blatt hing schief in den Angeln. Dahinter gähnte der schwarze Flur des Westflügels. Über der Tür war eine verblasste Inschrift zu erkennen:
Knaben
    Nachdenklich betrachtete er die alten Buchstaben. Das Regencape blähte sich unter der feuchtkalten Luft, die aus dem Gang in die Halle strömte. Einen Moment sah es aus, als wolle er hineingehen, doch er zögerte.
    Draußen, nicht viel mehr als ein Dutzend Meter entfernt, röhrte ein Motor auf, ein Moped ratterte im ersten Gang die steile Kopfsteinpflasterstraße hinauf.
    Er beachtete es nicht. Niemand interessierte sich für das, was hinter dem schiefen Zaun geschah, was sich wirklich hinter den alten Mauern verbarg. Außer Narren und spielenden Kindern, die sich gegenseitig Schauermärchen erzählten.
    Sie hatten Angst, weil sie die Wahrheit nicht kannten. Weil sie das Ungewisse fürchteten, genau wie der Mann, der hinten in einer der Zellen hockte und nicht wusste, warum er hier war.
    Er würde es bald erfahren.
    Der Mann im Regencape sah nach oben. Über der Inschrift befand sich eine Nische, dort hatte früher die Statue eines nackten Jungen gestanden, sie war längst gestohlen worden.
    Das, was er vorhatte, war gut geplant. Er hatte sich vorbereitet, jetzt fehlten nur noch ein paar Kleinigkeiten.
    Sechsunddreißig Baderäume waren hinter der Tür.

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