Zorn - Wo kein Licht
Angriffslust gewichen. »Keine Angst«, erklärte sie und stand auf, »ich habe keine ansteckenden Krankheiten. Falls Sie trotzdem Sorge haben, schicke ich jemanden und lasse den Stuhl desinfizieren.«
Das Kinn von Hauptkommissar Zorn schob sich nach vorn, aber er schwieg. Schlagfertigkeit gehörte nicht unbedingt zu seinen Stärken.
Frieda Borck ging zur Tür.
»Die Prozessakten im Fall de Koop sollten im Laufe des Vormittags eintreffen. Ich lasse sie direkt zu Ihnen bringen.«
Sie nickte Schröder zu und ging.
»Wie ist die denn drauf?«
»Wahrscheinlich«, erwiderte Schröder und öffnete eine Akte, »hat sie schlecht geschlafen.«
Zorn beschloss, nicht weiter über die Launen der Staatsanwältin nachzudenken, und legte die Tüte vor Schröder auf den Tisch. Dieser sah erstaunt auf.
»Was ist das?«
»Deine Pantoffeln.«
»Das ist wirklich lieb, Chef. Aber du hättest sie nicht extra mitbringen müssen.«
»Meine Schuhe stehen noch bei dir in der Diele.«
Schröder legte die Tüte auf den Boden, beugte sich vor und warf einen Blick auf Zorns Füße. Dann wandte er sich wieder seiner Akte zu.
»Was guckst du?«, fragte Zorn.
»Ich wollte nur sichergehen, dass du nicht barfuß zum Dienst erscheinst. Nicht, dass du dich noch verkühlst.«
»Du wirst es nicht glauben, aber ich besitze mehr als ein Paar Schuhe. Ich war noch mal zu Hause.« Zorn nahm Platz, der Stuhl war noch warm vom Körper der Staatsanwältin. Unbehaglich rutschte er auf der Sitzfläche nach vorn. Er fühlte sich wie auf einer öffentlichen Toilette, die kurz zuvor von jemand anderem benutzt worden war.
»Ich habe übrigens deinen Vater getroffen. Ein sympathischer Mann.«
»Ja, das ist er«, antwortete Schröder, weiter mit seiner Akte beschäftigt. »Ich hoffe, du warst nett zu ihm.«
Zorn fuhr seinen Rechner hoch.
»Ich hatte völlig vergessen, dass du Rüdiger heißt.«
Schröder blätterte um.
»Mein Vater ist über siebzig, er wird langsam ein wenig dement. In letzter Zeit bringt er die Dinge häufig durcheinander, verwechselt alles Mögliche. Deswegen hat er dich Rüdiger genannt.«
»Mich?«
»Rüdiger ist der Name meines Bruders.«
Schröder klappte die Akte zu.
»Er ist seit über zwanzig Jahren tot.«
*
Seine guten Vorsätze sollte Claudius Zorn an diesem Tag nur teilweise in die Tat umsetzen. Als gegen vierzehn Uhr die Akten eintrafen, hatte er Schröder zwar wie geplant im Auge behalten (was nicht verwunderlich war, schließlich saßen sie einander die ganze Zeit gegenüber), ein persönliches Wort allerdings hatten sie nicht mehr gewechselt. Stattdessen vertieften sie sich in die Prozessunterlagen, und es gelang Zorn tatsächlich, Malina ein paar Stunden zu vergessen.
Doch das war nicht alles.
Es war Zorn, der kurz vor Feierabend einen verdutzten Schrei ausstieß, als er den ersten entscheidenden Hinweis entdeckte.
*
Die Sonne ging unter.
Von den Kronen der alten Platanen rieselten die letzten Blätter, ein lautloser Regen ließ den Kurpark noch surrealer, noch unwirklicher erscheinen als er ohnehin schon war. Die hohe Fassade der ehemaligen Kurgaststätte leuchtete, als stünde sie in Flammen. Ein schiefes Baugerüst lehnte an der Ruine, es schien, als stützten sie sich gegenseitig wie müde, angetrunkene Riesen.
Im Laufe der Jahre hatte es einige Versuche gegeben, das alte Kurgelände wiederzubeleben. Alle waren gescheitert, Investoren hatten Insolvenz angemeldet, Fördergelder wurden veruntreut, Vereine gegründet, umbenannt und wieder aufgelöst.
Dies alles, so munkelte man, lag nicht nur an der Gier und am Unvermögen der Menschen. Die Geister wollten diesen Ort nicht hergeben, wollten unter sich sein, brachten jedem Unglück, der es wagte, die Linie zu überschreiten. Immer wieder kochten die uralten Geschichten hoch, wie die vom Fuhrknecht, der im Mittelalter eine Ladung Salz gestohlen hatte. Erst unter der Folter hatte er die Tat gestanden, erst, nachdem man ihn mit siedendem Salz geblendet hatte. Später, als er dann auf dem Marktplatz gehenkt werden sollte, konnte er einfach nicht sterben. Er war zu leicht, sein Genick brach nicht, erst zwei, dann vier Männer hängten sich an seine Beine, zerrten aus Leibeskräften, bis endlich das Henkersseil riss. Der Knecht, so erzählte man, habe sich noch einmal aufgerichtet und alle Anwesenden verflucht, habe geschrien, getobt, gewütet, solange, bis er von der verängstigten Menge gesteinigt worden war. Niemand hatte seinen Leichnam anrühren wollen,
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