Zorn
Schießerei.
»Hill wurde am Bein getroffen. Er hat sofort einen Notarzt für seine Kollegin verlangt, aber ihr war nicht mehr zu helfen«, teilte Rimes Lucas mit. »Er sagt, er hätte gleich gewusst, dass sie tot ist. Hill erholt sich wieder, der Mann von Kelly Barker ist schwer verletzt, aber er wird durchkommen. Er hat zwei Kugeln in die Brust und eine in die Schulter abgekriegt … Sherrill hat es direkt unter dem Kinn erwischt.«
»Hat ihr Rückgrat durchtrennt«, erklärte ein Mann vom Spurensicherungsteam. »Sie war sofort tot. Als wäre sie geköpft worden.«
»Kelly Barker ist nichts passiert«, berichtete Rimes. »Sie sagt, der Schütze war ein ziemlich fetter Typ mit einem schwarzen Bart. DNS von ihm kriegen wir über das Blut, was heißt, dass wir ihn zweifelsfrei überführen können, wenn wir ihn aufspüren. Wollen Sie sich setzen?«, fragte er Lucas.
Lucas wandte sich stumm Del zu, kehrte kopfschüttelnd durch die Küche in den Garten zurück und setzte sich ins Gras.
Wenig später gesellte sich Del zu ihm, ging neben Lucas in die Hocke und sagte: »Die Leute sind Profis. Die schaffen das. Ich bring dich heim.«
»Jemand muss es ihrer Familie sagen«, erklärte Lucas mit zitternder Stimme.
»Aber nicht du. Komm. Ich fahr dich nach Hause.«
Auf dem Beifahrersitz weinte Lucas hemmungslos.
»So eine verdammte Scheiße«, sagte Del.
Weather erreichte Lucas übers Handy. »Wo bist du?«, fragte sie.
»Auf dem Weg nach Hause. Bin in zehn Minuten da.«
»Fährst du selber?«
»Nein, Del.«
»Bis in zehn Minuten.«
Weather und Letty erwarteten ihn in der Auffahrt.
Del hielt den Wagen an. »Ich fahre aufs Revier und kümmere mich um den Papierkram wegen Berg – ich wünschte, wir wären diesem Idioten nie begegnet.«
Lucas nickte und stieg aus.
Weather legte den Arm um seine Taille. »Shrake und Del haben es mir gesagt. Lucas, es tut mir so leid.«
Wieder nickte Lucas.
»Was willst du jetzt machen?«, erkundigte sich Letty.
»Keine Ahnung. Im Moment bin ich so durcheinander, dass ich nicht klar denken kann. Der Typ hat einfach drauflosgeballert und ihren Mann aus eineinhalb Metern dreimal erwischt, ohne ihn zu töten, aber Marcy hat er aus über zehn Metern getötet. Gott …«
»Du musst den Täter finden und ihn dir vornehmen. Persönlich.«
»Letty, lass das«, sagte Weather.
»Nein, ich gebe keine Ruhe«, erwiderte Letty und fügte an Lucas gewandt hinzu: »Wenn du das nicht für dich regelst, kriegst du es nie mehr los. Zuerst die Jones-Mädchen und nun Marcy. Dad …«
»Letty, halt den Mund«, ermahnte Weather sie. »Bitte. Darüber können wir später reden. Lucas, setz dich.«
»Ich muss mit den Kollegen in Minneapolis sprechen«, sagte Lucas. »Mit ihrem Partner, und herausfinden, was genau passiert ist. Ich habe genug Hinweise, um diesen Kerl zu finden. Jetzt haben wir sogar DNS von ihm.«
»Aber nicht mehr heute Nacht«, erklärte Weather. »Komm. Ich muss noch irgendwo Hotdogs haben. Wir machen uns was zu essen. Du musst nachdenken.«
»Ja, nachdenken.« Er legte die Arme um die Schultern der beiden Frauen, und sie gingen ins Haus.
Die Zeit verging, ohne dass die Toten wiederauferstanden wären. Ihr Tod wurde nur realer.
Lucas saß ohne Licht in seinem Arbeitszimmer, während Letty und Weather mit der Haushälterin in der Küche werkelten. Er hörte sie herumklappern und einander von Zeit zu Zeit anknurren.
Letty und Weather standen sich sehr nahe, hatten aber fundamental unterschiedliche Weltsichten. Weather hing als Chirurgin der Fürsorgementalität ihres Standes an. Letty, ihre Adoptivtochter, war ohne Vater, dafür mit einer halb verrückten Alkoholikermutter in einer harten ländlichen Umgebung aufgewachsen. Ihr Motto lautete: Zuerst zuschlagen und dann, wenn nötig, noch einmal zuschlagen. Entschuldigen konnte man sich später, falls man sich geirrt hatte. Ihr Prinzip war simpel: Sorge für dich selbst, deine Familie und deine Freunde.
Weather war der Überzeugung, dass das System Marcys Killer bestrafen würde. Dass Lucas nur Probleme bekommen würde, wenn er die Sache zu seiner Privatfehde machte. Letty hingegen glaubte, dass Lucas nicht mehr würde ruhig schlafen können, wenn er den Killer nicht stellte.
Lucas hatte noch nie eine Frau so geliebt wie Weather – aber seine Einstellung ähnelte eher der von Letty. Der Mord an Marcy Sherrill lag wie ein Eisbrocken auf seinem Herzen. Und der würde nicht verschwinden, sondern nur härter und kälter
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