zorneskalt: Thriller (German Edition)
weil sie anders war als Niamh, ohne jedoch zu erkennen, wie ähnlich sich die beiden in Wirklichkeit waren. Gewiss, Lauras Haus war ordentlicher, sie kochte essbar, sie redete mit mir, sie verwöhnte mich. Aber sie war auch eine Komplizin darin gewesen, die Wahrheit vor mir zu verbergen, Niamhs Lüge am Leben zu erhalten. Im Innersten waren die beiden Schwestern doch nicht sehr unterschiedlich.
Die blank geputzte alte Messingglocke läutete, als riefe sie ein Dienstmädchen an die Haustür. Laura machte mir in Tenniskleidung auf, als hoffte sie, mich zwischen zwei Matches abfertigen zu können. Auf ihrem Gesicht stand ein Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte.
» Rachel.« Sie zog mich an sich, umarmte mich. Sie erschien mir wie eine ältere, knochigere Version ihres früheren Ichs. Ihre Haut war auch jetzt im Winter sonnengebräunt und runzlig wie die einer viel älteren Frau. Zu viele Stunden auf dem Tennisplatz. Aber diese Augen, ihr blasses Blau, wie sie tief in einen hineinsahen, allwissend. Das waren Niamhs Augen. Ich spürte, wie ich in ihrer Umarmung erstarrte.
Auf dem Weg ins Wohnzimmer sprachen wir übers Wetter, bevor sie sich mir zuwandte, um mich zu mustern.
» Du bist müde, Rachel, das sehe ich an deinen Augen. Sie glänzen – so wie früher, wenn du als kleines Mädchen dringend ins Bett musstest.«
Ich schwöre, dass sie das niemals zu mir gesagt hat, als ich jünger war. Man könnte glauben, sie versuchte, glückliche Kindheitserinnerungen à la Enid Blyton für mich zu erschaffen. Alle erfunden, weil sie nie so war.
Ich sah mich um. Die geblümte Tapete war im Lauf der Jahre von der Sonne ausgebleicht, und der grüne Teppichboden, in den Achtzigern bestimmt modern, war alt und abgetreten. Sie zögerte kurz, als lägen ihr Worte auf der Zunge, die darauf warteten, ausgesprochen zu werden. Aber dann entschied sie sich dagegen. » Ich mache uns Tee, ja?«, sagte sie etwas zu laut.
Weil Laura keine Kinder hatte, gab es auch keine Fotos von Abschlussfeiern, Hochzeiten oder Taufen, mit denen sie ihre Freunde hätte beeindrucken können. Nur ein paar von meinem Onkel John, der gestorben war, als ich noch klein war. Mir wurde klar, dass sie womöglich ein einsames, trauriges Leben geführt hatte, und ich fragte mich, weshalb ich mich in dem vergangenen Jahrzehnt nicht öfter bemüht hatte, sie zu besuchen. Doch als sie mit einem Tablett mit Tee und Gebäck zurückkam, wurde ich daran erinnert, warum ich auf Distanz geachtet hatte. In ihrem Gesicht konnte ich das meiner Mutter sehen.
Sie nahm in dem Sessel mir gegenüber Platz, goss mir Tee ein und reichte mir Tasse und Untertasse. Früher war sie mir in der Rolle meiner Beschützerin immer so groß erschienen. Jetzt schien der Sessel kurz davor zu sein, sie zu verschlucken. Statt sich hineinsinken zu lassen, kauerte sie auf der Vorderkante und wartete darauf, befragt zu werden.
» Ich weiß Bescheid über Clara«, sagte ich. Sie sah nicht auf, deshalb konnte ich ihren Gesichtsausdruck nicht beurteilen. » Ich weiß einiges, Laura, aber es gibt noch viele Lücken. Du musst mir alles erzählen. Wenigstens das bist du mir schuldig, finde ich.«
Laura seufzte, löffelte Zucker in ihren Tee und rührte um. » Es tut mir leid«, sagte sie schließlich. » Niamh hätte es dir schon viel früher sagen müssen.«
» Niamh hätte vieles tun müssen«, sagte ich. » Wann hat Clara es herausbekommen?«
» O Rachel, was nützt es dir jetzt, das alles hervorzukramen …«
Ich spürte, wie ich vor Zorn errötete. Trotz allem glaubte sie noch immer zu wissen, was für mich das Beste war. Ich beugte mich vor und fixierte sie mit durchdringendem Blick. » Ich will wissen, wie lange Clara Bescheid gewusst hat. Hat sie’s gewusst, als wir dorthin, nach Brighton gezogen sind?«
» Nein, Darling, sie haben sich Briefe geschrieben, na ja, deine Mutter hat ihr geschrieben, aber sie hatten sich viele Jahre lang nicht mehr gesehen. Nach allem, was passiert war, hätte Simon, Claras Dad, niemals einem Treffen zugestimmt.« Sie machte eine Pause, fragte sich zweifellos, wie viel von der Geschichte ich wirklich kannte, wie viel sie beschönigen oder verfälschen konnte. » Dann sollte er sie eines Tages vom Haus einer Freundin abholen und hat feststellen müssen, dass es ausgerechnet Niamhs Haus war. Das war ein ziemliches Problem, kann ich dir sagen. Es war nicht leicht, Simon davon zu überzeugen, dass das nur einer dieser unerklärlichen Zufälle war. Und das war
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