zorneskalt: Thriller (German Edition)

sechsten Klasse einer Privatschule und lernte für ihre A-Level-Prüfungen. Eine Jugendliebe, sagten alle. Und dann wurde sie schwanger. Das war 1977, und sie wollten das Richtige tun und heiraten.
    » Sie waren verliebt«, sagte Laura und starrte aus dem Fenster, irgendwohin, nur um mich nicht ansehen zu müssen. Nichts an ihr wollte mir diese Geschichte erzählen. Rote Flecken stiegen an ihrem Hals hoch, sie schien mit trockenem Mund zu sprechen. Aber sie zwang sich dazu. Vermutlich ahnte sie, dass ich die Wahrheit sonst aus ihr herausgeprügelt hätte.
    »Clara wurde Anfang September geboren. Ich glaube, dass Niamh es genossen hatte, schwanger zu sein. Du weißt ja, wie sie immer anders sein wollte als die Menge, und sie kannte sonst kein Mädchen, das ein Kind bekam. Aber die Realität hat sie bald eingeholt.«
    » Ist sie bei ihren Eltern geblieben?«, fragte ich.
    Laura gestattete sich ein trockenes Lachen. » Dein Großvater hat ihr versichert, in seinem Haus sei sie immer willkommen. Sie hätte ihr Kind dort aufziehen können, wenn sie gewollt hätte. Aber das war nicht ihr Stil, sie wollte unabhängig sein, also hat er die Hochzeit bezahlt und für sie und Simon eine Wohnung gemietet.«
    Ich ließ ihre Worte eine Zeit lang in der Luft hängen, bevor ich sie einatmete. Meine Mutter, die Frau ohne versöhnende Eigenschaften.
    » Sie hat alles bekommen, aber dann ist sie hingegangen und hat wieder alles verdorben.«
    » Sie hat wieder alles verdorben, meinst du, als sie mit mir schwanger wurde?«
    » Nein, ich … Das hab ich nicht gemeint. Niamh hat meinem Vater alles, was er für sie getan hat, wieder vor die Füße geworfen. Wir alle hatten ihm seit Jahren gesagt, sie könne ihn um den kleinen Finger wickeln. Wir haben ihn gewarnt, er solle sie ihre eigenen Fehler machen lassen. Ich glaube, er hat uns für eifersüchtig gehalten. Und dann hat sie angefangen, Clara in der Wohnung allein zu lassen und auszugehen. Weiß der Teufel, wohin. Sie war der Verantwortung nicht gewachsen, hatte nie welche tragen müssen. Und dann ist sie abgehauen, hat Simon mit dem Baby sitzen gelassen, ohne sich auch nur zu verabschieden. Meine Mutter hat versucht, Kontakt zu ihr zu halten, damit sie zurückkam oder wenigstens mit ihm redete. Aber das wollte sie nicht. Sie hat gefürchtet, Simon würde versuchen, sie zur Rückkehr nach Brighton und in ihr altes Leben zu überreden. Deshalb hat sie zuletzt gar keine Anrufe mehr entgegengenommen. Ich glaube, dass dein Großvater so fixiert darauf war, Clara zu behalten, weil er sich dann einbilden konnte, Niamh nicht ganz verloren zu haben.« Aus ihrem Tonfall sprachen Wut und Tadel. Ich gestattete mir ein trockenes Lachen. In all diesen Jahren hatte ich Pflichtbewusstsein mit schwesterlicher Liebe verwechselt. Ich hatte geglaubt, ihre Beziehung wäre harmonisch, wenn auch frustrierend gewesen. Aber jetzt sah ich, dass Laura eifersüchtig auf Niamh gewesen war, eifersüchtig wegen der schamlosen, unverdienten Bevorzugung durch ihren Vater. Und sie war so zornig, dass sie noch zehn Jahre nach dem Tod ihrer Schwester mit den Folgen ihres Verhaltens kämpfte.
    » Erzähl mir von Clara«, verlangte ich. » Als Baby«, fügte ich hinzu, bevor sie einwenden konnte, dass ich dich sicher besser kenne als sie.
    Ich hörte sie schnaufen und merkte, dass sie glaubte, mir bereits mehr als genug erzählt zu haben, um mich zufriedenzustellen. Sie hatte keine Ahnung, wie es war, feststellen zu müssen, dass die ganze Geschichte meines bisherigen Lebens fabriziert, auf einem System von Lügen aufgebaut war. Sie verstand den unersättlichen Hunger nicht, jedes einzelne Detail zu erfahren, das mir vorenthalten worden war.
    » Sie war ein schwieriges Kind. Jede Mutter hätte mit ihr alle Hände voll zu tun gehabt, vor allem eine im Teenageralter. Sie hat nicht geschlafen, hat immer nur geschrien.«
    So hatte Niamh auch mich als Säugling geschildert. Ich fragte mich, ob sie unsere Geschichten absichtlich vertauscht hatte.
    Dein erstes Heim, Clara, war offenbar eine Zweizimmerwohnung in der Lewes Road gewesen, auf der Busse vorbeidonnerten, die dich nicht schlafen ließen. Laura sagte, Simon habe Niamh viele letzte Chancen gegeben, sogar als er feststellen musste, dass sie ausgegangen war und dich allein in der Wohnung zurückgelassen hatte. Er muss sie wirklich geliebt haben, wenn er das hingenommen hat.
    Als ihre Erzählung sich dem Zeitpunkt meiner Zeugung näherte, begann Laura sich zu winden. Ich