zorneskalt: Thriller (German Edition)
denn im nächsten Augenblick ziehst du mich am Arm, schleppst mich zu den Toiletten. Als wir zu zweit in der Kabine sind, bringst du ein kleines Faltbriefchen zum Vorschein.
» Du brauchst einen Muntermacher«, sagst du.
Du ziehst zwei dicke Linien Kokain auf dem Klodeckel und hörst nicht auf mich, als ich sage, dass ich nicht in der Stimmung dazu bin. Du wirfst dich herum und sagst: » Komm jetzt, Rachel, erzähl mir nicht, dass du völlig clean bist.« Du gibst mir einen zusammengerollten Zehnpfundschein. » Pass auf, das wird wie in alten Zeiten.«
» Lieber nicht«, sage ich und schlüpfe zur Tür hinaus.
Als ich Jonny finde, schreie ich ihm ins Ohr, dass er mich nach Hause bringen soll. Er spricht kurz mit Dylan, damit er weiß, dass er sich um dich kümmern muss. Selbst wenn du’s nicht mehr schaffen solltest, zu uns zu kommen, weiß ich, dass du so wenigstens ein Bett für die Nacht haben wirst.
Die Suche nach einem Taxi scheint endlos lange zu dauern, aber das macht mir ausnahmsweise nichts aus. Ich bin froh, mit Jonny allein zu sein. Wir haben September, eine laue Spätsommernacht. Ich habe London um diese Zeit schon immer geliebt, wenn die meisten Leute schlafen, aber die Großstadt noch wach, noch voller Leben ist. Die Straßen, die Lichter, der Mond am Nachthimmel – es fühlt sich an, als gehörte das alles mir.
» Sieht so aus, als hätte deine Freundin vor, Dylan heute Nacht sehr glücklich zu machen«, sagt Jonny.
» Sie hat wohl deinen Erwartungen entsprochen?«, frage ich und warte darauf, dass er zustimmt.
Wir halten uns an den Händen, und ich spüre seinen Griff fester werden, als er mich an sich zieht. » Ganz ehrlich? Mir war sie ein bisschen zu forsch.« Ich sehe ihn an, weil ich spüre, dass noch mehr kommt. » Ach Scheiße, sie ist mir irgendwie … bedürftig vorgekommen. Das habe ich nicht erwartet, nicht von einer Freundin von dir. Macht mich das zu einem schlechten Menschen?«
» Absolut nicht«, sage ich und muss dabei ein bisschen lächeln. Er sieht mein Lächeln und küsst mich.
Er kennt mich besser als du, Clara. Du irrst dich.
11
Die Kriminalbeamten hatten einen Durchsuchungsbeschluss. Sie waren in meiner Wohnung. Ich kann dir nicht sagen, wie sich diese Entweihung anfühlte. Zu wissen, dass sie unser Eigentum durchwühlten und das Leben, das ich so sorgfältig aufgebaut hatte, Stück für Stück demontierten. Sie würden die Briefe, die Karten, die E-Mails lesen, die Jonny und ich uns geschrieben hatten, würden sich unsere intimen Augenblicke teilen wie ein Schmuddelmagazin, über das man sabbern kann. Und die ganze Zeit würden sie etwas suchen, das eine Verbindung zwischen Jonny und dir herstellte. Und zu deinem Verschwinden. Dieses Etwas, das es nicht gab.
Ähnliche Szenen hatte ich schon so oft für Fernsehreportagen gefilmt: Männer und Frauen in weißen Overalls, Spurensicherer, die Häuser und Gärten durchkämmten oder unter Zelten arbeiteten, um Mordopfer vor sensationslüsternen Medienleuten zu schützen. Ich war eine Figur auf den Seiten meines eigenen Drehbuchs geworden.
Ich wollte glauben, du wärst vielleicht einfach nur geflüchtet, Clara, ohne eine Spur zu hinterlassen. Dass niemanden eine Schuld träfe und alles sich als harmloses Missverständnis herausstellen würde. Aber in meinem Hinterkopf hatte sich ein Gedanke festgesetzt, eine schwache Erinnerung, als hätte ich schon immer gewusst, dass dies passieren würde. Ich hatte nur darauf gewartet, nur darauf gewartet.
Ich hatte Jonnys Mutter noch immer nicht zurückgerufen. Ich muss gestehen, dass ich das vor mir herschob wie eine Arbeit, von der man weiß, dass sie getan werden muss, die aber so riesig ist, dass man nicht weiß, wo man anfangen soll. Und ich hatte so mit den eigenen Gefühlen zu tun gehabt, dass ich mir nicht auch noch fremde aufhalsen lassen konnte. Aber als ihre Nummer zum dritten Mal angezeigt wurde, wusste ich, dass ich sie nicht länger ignorieren durfte.
» Sandra«, sagte ich. » Entschuldige, ich wollte dich gerade anrufen.«
Ich hörte mir das Echo meiner eigenen Gedanken an – » Ich versteh das nicht, Rachel, ich versteh’s einfach nicht« –, wartete geduldig, während sie weinte, und versuchte, beruhigende Laute von mir zu geben. Aber als sie dann anfing, mich mit Fragen zu bombardieren, von denen ich keine beantworten konnte, erkannte ich, dass ich im Begriff war, die Geduld zu verlieren. Merkte sie nicht, dass auch ich kurz davor war, den Verstand zu
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