zorneskalt: Thriller (German Edition)
Anfang noch Ende.
Ich wusste, dass die Nachricht, Jonny sei tot aufgefunden worden, längst durch Radio und Fernsehen verbreitetet worden sein musste. Weil ich jetzt ein Teil der Story war, würden mir Fotografen vor meinem Haus auflauern. Noch ein Grund, zu Jake zu fahren.
Seine Wohnung lag im Erdgeschoss, und als ich klingelte, kam er heraus, um mich einzulassen. Ich weiß noch, wie ich gegen ihn fiel, als sei es genau in diesem Augenblick zu anstrengend geworden, auf den Beinen zu bleiben. So hielt er mich eine halbe Ewigkeit umarmt, still und schweigend, bevor er mich hineinschob.
Ich streifte die Schuhe ab und zog die Beine auf seinem Sofa unter mich, während er in der Küche verschwand, aus der er mit einer Flasche Rotwein und zwei Gläsern zurückkam.
» Hier«, sagte er und gab mir ein volles Glas.
Ich trank es in einem Zug halb leer und wartete darauf, dass der Alkohol mich wärmen würde. Aber mein Körper war nun schon so viele Tage kalt, dass er vergessen hatte, wie man Wärme aufnahm.
Wir redeten eine Zeit lang nicht, hörten nur die Musik, die Jake aufgelegt hatte: ein Mann, der mit samten tiefer Stimme einen beruhigenden Song vortrug, bei dem man in sich selbst versinken konnte. Ich ließ ihn über mich hinwegfluten, nahm zwischendurch kleine Schlucke Wein.
Dann wurde mir etwas bewusst.
» Ich habe noch nicht geweint, keine einzige Träne. Ich komme mir wie ausgetrocknet vor, als hätte ich keine übrig.«
» Jeder reagiert anders«, sagte Jake. Er stellte sein Weinglas ab und stand auf, um die CD zu wechseln. Ich beobachtete, wie er seine Sammlung durchging, mit einem Finger über die Hüllen fuhr, einzelne herauszog und sie wieder zurückstellte, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. An der Wand gegenüber hingen ein Druck von Banksy, auf dem Leute mit Bomben kegelten, und ein verblasstes Kinoplakat von » Krieg der Sterne«. Die Wände waren dunkel neutral gestrichen, und das geschmackvoll gedämpfte Licht erzeugte einen mühelos coolen Effekt, der mich normalerweise beeindruckt hätte, aber nicht an diesem Abend, an dem meine Sinne taub waren.
Ich hörte wieder leise Musik, und dann saß er neben mir, legte einen Arm um meine Schultern. » Mach’s dir nicht selbst schwer, Rachel.«
» Alles verschwindet. Manchmal kommt’s mir vor, als hätte ich mir alles nur eingebildet«, sagte ich mit matter, emotionsloser Stimme. Seine Hand berührte mein Kinn, hob mein Gesicht hoch, überraschte mich mit der Hitze seiner Berührung.
» Da kommst du durch. Versprochen. Du bist die stärkste Frau, die ich kenne«, sagte er und zog mich in die Arme. Ich spürte seinen Herzschlag an meiner Brust. Poch, poch, poch. Ich wollte so gerne lange genug dort bleiben, damit sein Schlag meinem Herzen Starthilfe geben konnte. Damit die Wärme seines Körpers meinen auftauen konnte. Damit die Kälte in meinen Knochen und die Benommenheit in meinem Kopf nachließen. Zuletzt löste er sich sanft von mir, aber seine dunklen Augen fixierten weiter meine. Dann muss ich die Augen geschlossen haben, denn ich sah nicht, wie sein Kopf sich mir wieder näherte. Ich spürte nur seine warmen Lippen auf meiner Wange. Als ich wieder hinsah, konnte ich nur seine Lippen sehen, rot und warm und voll, und ich fühlte mich zu ihnen hingezogen, weil ich mich danach sehnte, etwas zu berühren, das nicht kalt und blau und tot war. Ich dachte eine Sekunde lang nicht daran, wie unrecht das war, ich dachte nur daran, dass seine Lippen zu küssen vielleicht das Einzige war, das mich in dieser Nacht am Leben erhalten konnte.
Als ich schlagartig wieder zur Vernunft kam, zuckte ich vor Scham zusammen, als hätte ein kalter Wasserguss mein Gesicht getroffen.
» Entschuldige«, murmelte ich. » Ich wollte nicht …«
» Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Rachel«, sagte er und stand auf, um uns Wein nachzuschenken.
Am folgenden Morgen wachte ich in seinem Bett auf. Unter der Steppdecke, vollständig bekleidet. Jake musste mich hinübergetragen haben, nachdem ich auf dem Sofa eingeschlafen war. Ich stand auf und sah in den Spiegel. Mein Haar war ein wildes rotes Gewirr. Ich fasste es zu einem Pferdeschwanz zusammen. Meine Wimperntusche war verschmiert, und die Augen waren blutunterlaufen, aber nicht vom Weinen. Mein Mund war ausgedörrt, brauchte dringend Wasser.
» Wie spät ist es?«, fragte ich, als ich aus dem Schlafzimmer kam.
Jake saß beim Kaffee an der Kücheninsel, hatte auf der Arbeitsplatte vor sich eine Zeitung
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