zorneskalt: Thriller (German Edition)
ihn.
Er könnte es gewesen sein. Jeder könnte es gewesen sein.
Ich betrachtete wieder den Umschlag, meinen mit zornigen Großbuchstaben getippten Namen.
HAST DU KEINE GEFÜHLE ?
Ich schob ihn unter den Stapel.
» Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er.
» Alles bestens«, sagte ich und hoffte, er würde das Hämmern meines Herzens nicht hören.
» Wie viele Schlüsselsätze möchten Sie? Sie sind hier allein, stimmt’s?« Er hatte ein freundliches, rotbackiges Gesicht. Aber das brauchte nichts zu bedeuten.
» Nein«, sagte ich hastig. Niemand sollte denken, ich lebte allein. » Ich brauche drei. Zwei für mich, einen für meinen Freund.«
» Geht klar«, sagte er.
Ich holte mein Scheckbuch, stellte einen Scheck auf den Rechnungsbetrag aus und gab ihn dem Mann. Dann atmete ich erleichtert auf, als seine stämmige Gestalt aus der Tür in den Nachmittag hinaustrat und verschwand.
Die Vorhänge waren zugezogen, um den Tag auszusperren, und ich war in meine zwei Kaschmirdecken wie in einen Kokon gehüllt. Mit der Fernbedienung zappte ich mich durch die Programme, bis eine Sendung über Weiße Haie auf Discovery meine Aufmerksamkeit weckte. Ich ließ mich mit ihr treiben, stellte mir vor, ich durchschnitte die Meerestiefen mit den Haien – ebenso elegant und machtvoll wie sie, ohne irgendeinen Feind.
Die Stimme des Kommentators war tief und heiser und suggerierte Gefahr. Sie informierte mich darüber, dass Weiße Haie einen Tropfen Blut aus über einer Meile Entfernung wittern konnten. Vor dem Weißen Hai gibt es kein Entrinnen. Er kann schwache Stromstöße von Herzen und Kiemen orten und ansteuern. Er plant seine Angriffe und wählt seine Beute aus, lange bevor sein Opfer ihn sieht.
Das macht ihn so tödlich.
Als der Abspann lief, klingelte das Telefon, erschreckte mich mit seinem Lärm. Ich erwartete keinen Anruf. Weil ich keine Lust hatte, mich auf das Unerwartete einzulassen, ließ ich es zu Ende klingeln. Aber der Anrufer war hartnäckig – sobald das Klingeln verstummt war, vibrierte mein Handy.
Auf dem Display war Sandras Nummer angezeigt. Ich hatte nicht mehr mit ihr gesprochen, seit wir uns vor einigen Tagen in Brighton verabschiedet hatten, beide mit Jonnys Bild vor Augen. Ursprünglich hatte ich mir eingebildet, wir würden uns in unserer Trauer beistehen können, aber als ich sie an jenem Tag betrachtet hatte, war mir klar geworden, dass wir uns nur gegenseitig hinunterziehen würden.
» Rachel.«
» Ich wollte gerade weg«, sagte ich und stellte den Fernseher hastig leise.
» Es ist wegen der Obduktion …« Ich hörte sie Luft holen, als versuche sie, ihre Nachricht beherrscht zu übermitteln, was jedoch fehlschlug. Jämmerlich fehlschlug.
» Sie sagen, er könnte versucht haben, Selbstmord zu verüben«, fuhr sie fort. Dann versagte ihr die Stimme. Sie sagte kein Wort mehr, und ich glaubte zu hören, wie sie in eine Million kleine Stücke zerbrach.
Ich sah auf den Fernsehschirm, das Bild war wegen irgendeiner Störung verschwommen, und die Wände bewegten sich, ganz so als atmeten sie. Ich sah nur noch Schwarzweißbilder, aus denen alle Farbe gewichen war.
» Sandra«, fragte ich schließlich, » woran ist er gestorben?«
» Letztlich an Unterkühlung«, sagte sie. Ich fragte mich, was dieses letztlich bedeutete. » Aber er soll zuvor eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt haben. Das hätte er nie getan, nicht Jonny.«
Das Telefon glitt mir aus der Hand. Ein schmaler Strahl Sonnenlicht fiel durch die Vorhänge und erhellte den Raum.
Allmählich kehrte mein Sehvermögen zurück, und plötzlich war alles klar, sehr, sehr klar, weil alle Puzzlestücke wie von selbst an ihren Platz fielen.
Schlaftabletten. Ein überdeutlicher Hinweis.
Das warst du.
Und das Foto in meinem Zimmer, die SMS und die Briefe ebenfalls.
Du wolltest Rache.
Ich habe dir vertraut, und du hast mich verraten.
Ich wartete, fast ohne zu atmen, und die Stille des Raums glich einem glatten Meeresspiegel, bevor der Tsunami zuschlägt. Ich sank auf den Teppich, rollte mich zusammen und hielt schützend die Arme über den Kopf.
Eine gedämpfte Stimme aus dem Handy. » Rachel … Rachel … bist du noch da …« Dann verschwand die Stimme, ging in dem ohrenbetäubenden Tosen in meinem Kopf unter. Mein Körper begann zu zittern, als ich die Woge aus weiß glühendem Zorn auf mich zurollen spürte. Dann brach sie über mich herein, saugte die Luft aus meiner Lunge und ließ sie brennen. Um mich herum
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