zorneskalt: Thriller (German Edition)
wäre alles okay.
Nichts ist okay. Mein Freund ist tot, meine Freundin wird vermisst. Nichts wird jemals wieder okay sein.
Mein Anruf bei Tante Laura konnte warten.
Wie auf Autopilot kehrte ich an den Küchentisch zurück und betrachtete den Poststapel, der in den vergangenen zehn Tagen stetig angewachsen war. Mir war bewusst, dass ich ihn in Angriff nehmen musste – und sei es nur, um die Kontrolle über die kleinen Dinge des Lebens zurückzugewinnen, bevor sie mir ganz entglitt. Ich hatte erst einen Brief geöffnet – eine Einladung zu einem Probetraining in einen exklusiven Fitnessclub –, als mein Handy klingelte. Auf dem Display stand Sarahs Name.
» Hi, Babe!« Zum Glück hatte mich nie jemand vorher oder nachher » Babe« genannt. » Ich bin’s«, sagte sie, als wäre sie die Einzige, die mich jemals anrief.
» Hi.«
» Ich wusste nicht, ob ich anrufen sollte, ich meine, ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich an dich denke …« Sie suchte nach Worten. » Alles ist so schrecklich, ich kann mir gar nicht vorstellen, wie du dich fühlen musst.«
» Danke«, sagte ich. Sie war kaum zu verstehen, weil der Bohrer so laut war.
» Verdammt, was ist das?«, fragte sie.
» Oh, nur ein Mann vom Schlüsseldienst, der hier arbeitet.« Ich hatte nicht die Energie, ins Detail zu gehen.
» Verstehe«, sagte sie, obwohl ich mich fragte, wie sie das konnte. » Hör zu, ich muss weg, wir ziehen los und hängen Suchplakate für Clara auf. Man weiß ja nie, ob’s nicht vielleicht was nützt.«
Das bezweifle ich.
» Alles Gute«, sagte ich und legte auf.
Ich machte mit dem Poststapel weiter und begann mit den amtlich aussehenden Schreiben: Rechnungen und Kreditkartenauszüge, die ich beiseitelegte, weil ich die meisten als Spesen abrechnen konnte. Eine geschmacklose Briefkarte mit Schmetterlingen von Tante Laura, offensichtlich abgeschickt, bevor man Jonnys Leiche gefunden hatte. In ihrer kritzeligen Schrift hatte sie geschrieben:
Liebste Rachel,
die Sache mit Clara tut mir so leid! Ich kann mir vorstellen, wie sehr sie dich belastet. Ich habe mehrmals versucht, dich anzurufen, konnte dich aber nicht erreichen. Melde dich doch mal.
Wie immer in Liebe
Laura
Ich warf die Karte auf den Stapel mit den erwartungsgemäß eingegangenen Schreiben von Immobilienmaklern, die uns – mir – versicherten, sie hätten Massen von imaginären Käufern an der Hand, die nur darauf warteten, sich unsere Wohnung zu schnappen. Dann kam ich zu einem großen braunen Umschlag, der meinen Namen in Großbuchstaben und meine Adresse in Maschinenschrift trug. Er war nicht mit der Post gekommen, sondern persönlich eingeworfen worden und so leicht, dass ich mich fragte, ob er überhaupt etwas enthielt. Ich wartete einen Augenblick und hörte den Bohrer immer lauter werden, als der Mann vom Schlüsseldienst sich zur Küche vorarbeitete, bevor ich nach einem Messer griff und den Umschlag öffnete. Ich schüttelte ihn leicht. Zwei Stück Papier fielen heraus und schwebten langsam zu Boden.
Das Bohren begann mir auf die Nerven zu gehen. Ich wollte, dass es aufhörte. Ich bückte mich, um den Inhalt des Umschlags aufzuheben, und sah einen Zeitungsausschnitt mit dem charakteristischen Schriftbild der Daily Mail. Ich schüttelte den Kopf, aber die Schmerzen blieben. Die Titelseite lag mit dem Gesicht nach unten, sodass ich nur den Wetterbericht und eine Glosse über Gordon Brown sehen konnte. Aber ich wusste, dass ich die nicht lesen sollte. Ich drehte den Ausschnitt langsam um und sah wieder Jake und mich, wie wir uns im Dunkel seines Hauseingangs umarmten. Und als ich mir das Blatt A4-Papier ansah, das mit aus dem braunen Umschlag gefallen war, trug es nur die Worte:
Hast du keine Gefühle, Rachel Walsh?
Der Bohrer verstummte, aber die Schmerzen in meinem Kopf pochten rot glühend weiter. Dann spürte ich plötzlich jemanden so dicht hinter mir, dass ich zusammenzuckte. Als ich mich umdrehte, sah ich den Mann vom Schlüsseldienst, der einen Schritt zurücktrat, als er meinen Schrecken bemerkte. Seine Lippen bewegten sich, aber ich hörte nichts, deshalb wiederholte er das Gesagte, diesmal lauter.
» Wollte Sie nicht erschrecken, Schätzchen, aber ich bin jetzt fertig«, sagte er. » Wie viele Schlüssel möchten Sie?«
Ich beobachtete, wie er seine sackartigen Jeans über die Taille hochzog, worauf sie sofort wieder hinunterrutschten. Er hieß Mickey, er betrieb den Schlüsseldienst um die Ecke. Mehr wusste ich nicht über
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