zorneskalt: Thriller (German Edition)
mich stumm, etwas zu sagen, das ich nicht sagen konnte. Dass alles ein Irrtum wäre. Dass dort drinnen irgendein anderer Unglücklicher läge. Ich habe mir nie dringender gewünscht, etwas tun zu können. Stattdessen schüttelte ich den Kopf und stützte sie, als sie in meinen Armen zusammensackte.
15
Auf meinem Notizblock stehen noch die Stichwörter, die ich mir notierte, als mir mitgeteilt wurde, wie Jonny gestorben war. Meine Schrift ist zittrig und wäre für jeden anderen unleserlich. Ich glaube, die Wörter zu sehen, ohne sie tatsächlich zu lesen. Ihr Bild wird mir für den Rest meines Lebens vor Augen stehen.
Ich erinnere mich, wie die auf die Betreuung von Angehörigen spezialisierte Kriminalbeamtin mit leiser Stimme und mitfühlend schräg gelegtem Kopf die Details schilderte, wobei sie abwechselnd Sandra und mich ansah und tausendmal » Verstehe, ja, verstehe« sagte.
Sie berichtete, Jonnys Leichnam sei in einem Wäldchen in der Nähe von Preston Park aufgefunden worden. Dort habe er anscheinend einige Tage unter dem Schnee gelegen, bis der am Montag geschmolzen sei. Dann habe ein Mann, der mit seinem Hund unterwegs war, den Toten entdeckt.
» Als er aufgefunden wurde, trug er keine Jacke, nur Jeans und ein T-Shirt. Übers Wochenende hatten wir nachts minus sechs Grad.«
Er war allein dort draußen und hätte mich gebraucht, und nun ist er tot.
Ich erklärte ihr, Jonny wäre niemals so dumm gewesen, er hätte sich nicht betrunken und wäre nicht im Freien eingeschlafen. » Er sollte am nächsten Morgen nach Afghanistan fliegen.«
Neben mir schluchzte Sandra. Die Kriminalbeamtin ergriff ihre Hand und warf mir einen leicht vorwurfsvollen Blick zu.
» Ich verstehe, dass das ein traumatisches Erlebnis für Sie ist«, sagte sie, als hätte sie gerade den Menschen, den sie am meisten liebte, kalt und blau auf einer Platte vor sich liegen gesehen.
Auf der Rückfahrt nach London saß ich allein in einem Abteil und starrte aus dem Fenster, vor dem eine winterkahle Landschaft vorbeizog. Die Dämmerung sank herab, und in meinem Abteil wurde es trübselig düster. Ich fragte mich, was passieren würde, wenn die Sonne nie mehr aufginge; wenn die Welt aufhörte, sich zu drehen, und wir auf ewig in diesem grauen Dämmerlicht gefangen wären. Würden Bäume und Pflanzen als Erste verdorren und eingehen? Wenig später würden sicherlich wir folgen.
Weil wir alle die Wärme der Sonne spüren müssen, um überleben zu können, nicht wahr? Genau wie wir geliebt und begehrt werden, im Brennpunkt von jemandes Anerkennung und Bewunderung stehen müssen. Woher sollen wir wissen, dass wir auch nur existieren, wenn wir das nicht verspüren?
Ich hatte mich einst in deiner Aufmerksamkeit gesonnt, Clara. Ich war unter deinem Blick wie eine Blume aufgeblüht, und dann hattest du weggesehen, und ich war in der Kälte zitternd zurückgeblieben. An diesen Schmerz erinnerte ich mich sehr deutlich – als wäre ein Messer in mich eingedrungen, hätte mich ausgehöhlt.
Oh, ich hatte mich erholt, Clara, ich hatte gelernt, damit umzugehen, aber erst als Jonny aufkreuzte und mich zum Mittelpunkt seines Universums machte, erkannte ich, wie kalt mir gewesen war, wie sehr mir die Wärme gefehlt hatte. Nachdem er nun fort war, konnte ich spüren, wie der Frost sich wieder in meinen Knochen festsetzte, während eine erstickende Schwärze wie Seenebel herangerollt kam. Und ich versank darin, verschwand wieder.
Die unsichtbare Frau.
Ich hörte, dass ein Getränkewagen durch den Gang geschoben wurde, und hob rechtzeitig genug den Kopf, um zu sehen, wie er vorbeiklirrte, ohne dass der Verkäufer mich eines Wortes würdigte. War ich bereits verschwunden? Ich hielt mir eine Hand vors Gesicht, konnte sie aber im Dämmerlicht kaum erkennen. Erst als ich mir mit den Händen durchs Haar fuhr, kräftig daran riss, konnten die rote Haare in meinen Fingern mich davon überzeugen, dass ich noch da war.
Ich wollte nicht wieder allein sein. Ich wollte nicht heimkommen, durch meine Wohnungstür schlüpfen und verschwinden. Ich brauchte jemanden, der mich ansah und mit mir redete und mir versicherte, dass ich noch lebte und atmete.
Jake.
Er war der Einzige, an den ich mich halten konnte.
Als ich vor seiner Haustür aufkreuzte, war es früh oder spät, das weiß ich nicht mehr. Mein Zeitbegriff hatte sich verflüchtigt. Ich ließ mich willenlos treiben. Minuten und Stunden gehörten zu einer anderen Welt. Die eine, in der ich festsaß, kannte weder
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