Zu gefährlicher Stunde
wie sah es mit Rae Kelleher aus?
Ich rief meine frühere Assistentin in Sea Cliff an, wo sie mit ihrem Mann,
meinem ehemaligen Schwager Ricky Savage, wohnte.
»Hi«, sagte sie, »du kommst doch zu
meiner Signierstunde am Sonntag, oder?«
Oh Gott, die hatte ich total vergessen.
Rae hatte die Agentur nach der Hochzeit mit Ricky, einem Country-Star,
verlassen und verkündet, sie wolle von nun an »Nackenbeißer-Romane« schreiben.
Statt schlüpfriger Bestseller war etwas herausgekommen, das die New York
Times erst kürzlich als »ein Juwel unter den Erstlingswerken« beschrieben
hatte. Am Sonntagnachmittag würde sie es in einem Buchladen in ihrer Nähe
signieren. Rae hatte schreckliche Angst und war fest davon überzeugt, dass
praktisch niemand kommen würde. Ich konnte unmöglich absagen.
»Ich komme«, sagte ich begeisterter,
als ich eigentlich war. »Und ich habe eine Frage: Erinnerst du dich an den Tag,
an dem wir vom All Souls zum Pier gezogen sind?«
»Na klar. Du — mein Gott!«
Im Hintergrund kreischten junge
Stimmen, und Ricky brüllte: »Ruhe, Red telefoniert gerade!« Lisa und Molly, die
jüngsten seiner sechs Kinder mit meiner Schwester Charlene, waren übers
Wochenende zu Besuch. Nicht ohne Grund nannten wir sie Little Savages, kleine
Wilde.
»Deine Nichten machen uns wahnsinnig«,
bemerkte Rae. »Warum fragst du? Wegen des Umzugs, meine ich.«
»Ich habe meine alten Akten behalten,
weiß aber nicht, wo ich sie hingetan habe.«
»Kein Wunder, du und Hank wart an dem
Abend ziemlich blau. Du hattest deinen letzten offenen Fall abgeschlossen, das
habt ihr gefeiert.«
Am Morgen des Umzugs war ich in einem
Anfall von Nostalgie die alten Akten durchgegangen und auf meinen einzigen
ungelösten Fall gestoßen — die erste Ermittlung, die ich je für die Kooperative
durchgeführt hatte. Als ich den Bericht las, sprang mir die offenkundige Lösung
plötzlich ins Auge, und bis zum Abend hatte ich den Fall abgeschlossen.
Daraufhin hatten Hank und ich uns zu viele Gläser billigen Weins gegönnt.
»Diesen Abend vergesse ich nie«, fuhr
Rae fort. »Ich wohnte damals noch in dem Haus, wo auch das Büro war, und kam so
gegen zehn Uhr heim. Du und Hank wart voll wie tausend Russen und versuchtet
gerade, diesen scheußlichen Sessel, der noch heute in deinem Büro steht, in den
Mietlaster zu hieven. Zu dritt haben wir es dann geschafft, und du bist noch
mal reingerannt, um deine Aktenkartons zu holen. Hank sagte, dass du sie nicht
mitnehmen dürftest, und du hast geantwortet: ›Scheiße, mit dem heutigen Tag
sind alle Fälle abgeschlossen. Und damit gehören sie mir.‹ Hank lachte und lud
sie in den Laster.«
»Das weiß ich auch noch, aber wo sind
sie jetzt?«
»In dem Stauraum über deinem Büro zu
Hause. Hank und ich haben sie da reingestellt, während du im Bad gekotzt hast.«
»Nicht gerade einer meiner großen
Momente.«
Im Hintergrund wetteiferte Ricks Stimme
mit dem Geschrei meiner Nichten.
Rae seufzte. »Ich muss jetzt mal die
böse Stiefmutter spielen, bevor mein Mann völlig den Verstand verliert. Falls
du Hilfe brauchst, um die Kartons da rauszuholen, ruf einfach an. Wir bringen
Lisa und Molly mit und sperren sie übers Wochenende in den Stauraum.«
Ted legte gerade auf, als ich den Kopf
zur Tür hineinsteckte und ihn bat, den anderen mitzuteilen, dass wir uns am
nächsten Morgen um neun Uhr treffen würden, um die Ergebnisse durchzugehen.
»Verdammt, der Anruf war für dich. Ich
hab dich angeläutet, aber du bist nicht drangegangen.«
»Wer war es?«
»Marguerite Hayley. Ich soll dir
ausrichten, dass das Treffen mit dem BSIS ergiebig war und Todd Baylis sich am
Montag mit dir in Verbindung setzen wird. Er bittet um weitere Dokumente und
will sich mit dir und Julia treffen. Du solltest so weit wie möglich mit ihm
kooperieren.«
»Ich freu mich schon drauf.« Ich wies
ihn an, auf Firmenkosten etwas fürs Frühstück zu besorgen, und fuhr nach Hause,
um mir die Akten aus der Zeit bei All Souls anzusehen.
Vor der Haustür stieß ich auf Michelle
Curley, die Ralph soeben seine Spritze verpasst hatte. Sie hatte im Internet
nach Informationen über Diabetes bei Katzen geforscht. Während sie mir half,
die verstaubten Kartons herunterzuholen, erging sie sich in fachmännischen
Bemerkungen über Blutzuckerspiegel, Kreatinwerte und Somogyi-Effekt. Als ich
gerade mit dem letzten Karton herunterstieg, bedrängte sie mich derart
leidenschaftlich, ich möge doch ein Messgerät namens
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