Zu Grabe
öffnete.
»Ist wohl keiner daheim«, stellte Capelli enttäuscht fest.
»Halb so schlimm – ich werde Frau Novak wahrscheinlich sowieso bald in der Pietät treffen.«
»Das musst du mir genauer erzählen«, forderte die Gerichtsmedizinerin, während sie zum Auto gingen. »Was zur Hölle machst du beim Bestatter? Und woher kommt dieser plötzliche Tatendrang?«
Morell zuckte mit den Schultern. »Das ist eine lange Geschichte.«
»Kein Problem.« Capelli stieg in den Wagen. »Ich habe Zeit.«
In dieser Nacht lag der Chefinspektor noch lange wach und konnte nicht einschlafen. Er hatte schon wieder an Valerie denken müssen und kam außerdem vor lauter Kohldampf fast um: Hunger und Herzeleid – eine katastrophale Kombination.
Frustriert starrte Morell an die Decke und versuchte, sowohl seine Exfreundin als auch die Käsehäppchen, Schokokuchen und Sahnetorten zu ignorieren, die fröhlich vor seinem inneren Auge herumhüpften. »Nicht jammern und nicht schwach werden«, murmelte er leise. Er durfte seinen Gelüsten jetzt nicht nachgeben – nicht schon am ersten Tag.
Morell verscheuchte also die süßen Verlockungen und versuchte einzuschlafen. Wenn er Lorentz wirklich entlasten und das Rätsel um Benedikt Horsky lösen wollte, dann musste er morgen fit und ausgeruht sein.
»Ein Grab ist doch immer die beste Befestigung
wider die Stürme des Schicksals.«
Georg Christoph Lichtenberg
Lorentz hockte in seiner Zelle und starrte in die Dunkelheit. Obwohl er hundemüde war, wollte er nicht einschlafen, weil er sich vor dem Aufwachen fürchtete. Der Moment, in dem er langsam aus dem Nebel des Schlafs auftauchte und realisierte, wo er sich befand, war jedes Mal ein Schockerlebnis. Die plötzliche Erkenntnis, dass er im Gefängnis saß, war wie ein Schlag ins Gesicht.
Zu Beginn seiner Haft war er noch zuversichtlich gewesen und hatte geglaubt, dass alles nur ein dummes Missverständnis sei, das sich schnell klären würde. Er war davon überzeugt gewesen, dass er bald wieder nach Hause gehen und normal weiterleben könnte. Aber je mehr Zeit verging, desto mehr schwand dieser Optimismus und wurde durch Verzweiflung, Ungläubigkeit und Panik ersetzt.
Als wäre die ganze Situation nicht schon deprimierend genug, hatte der heutige Tag einen neuen Tiefschlag bereitgehalten, nämlich den Blick in die Zeitung: »Der Uni-Schlächter« lautete die Überschrift auf der Titelseite. Lorentz hatte den Artikel gelesen und nicht fassen können, was dort geschrieben stand. Irgendeine verlogene Reporterin hatte ein Porträt über ihn verfasst, und das, obwohl er noch nie in seinem Leben mit dieser Person gesprochen hatte. Der Bericht, der vor lauter Klischees, Küchenpsychologie und vor allem Lügen nur so strotzte, endete mit den Worten: »Lesen Sie im nächsten Teil unserer Serie ein Porträt über Chefinspektor Roman Weber, den Helden von Wien.«
Lorentz hatte die Zeitung in die Ecke gepfeffert und mit der Faust mehrfach auf seine Matratze eingeschlagen. Von wegen Held. Von wegen Schlächter. Die Rollen in diesem Spiel waren eindeutig falsch verteilt.
Nun saß er hier, schwamm in trüben Gedanken und fürchtete sich vor dem Moment morgen früh, in dem die Realität ausholen und ihm mit voller Wucht ins Gesicht schlagen würde. Das Einzige, was ihn davor bewahrte, durchzudrehen und in Tränen auszubrechen, war der Gedanke an seinen Freund Otto Morell und seine Freundin Nina. Die beiden waren seine letzte Hoffnung.
»Er wünscht dir, du lägest jetzt da drunten.
Und er wird auch dein Grab vernichten,
damit es niemand erfährt, daß du gelebt hast.«
Ödön von Horváth, Jugend ohne Gott
Alulim. Er hatte das Wort gegoogelt und folgende Erklärung dafür bekommen:
»Laut der sumerischen Königsliste war Alulim der erste Herrscher von Sumer und somit auch der erste König in der Geschichte der Menschheit. Es ist nicht klar, ob es sich bei ihm um eine historische Person oder nur um einen Mythos handelt. Sollte er tatsächlich gelebt haben, ist seine Regierungszeit auf jeden Fall vor 2900 v.Chr. anzusetzen. Der Legende nach war Adapa, ein mächtiger Magier, sein engster Berater.«
»Interessant«, murmelte er, griff nach Novaks Aufzeichnungen und las weiter.
Die nächsten Einträge enthielten Versuche, die Unterschlagung des Artefakts zu rechtfertigen, gefolgt von seitenlangen Abhandlungen über die Einzigartigkeit der Tafel, die Schwierigkeiten, sie versteckt zu halten, die Gefahr, sie bis nach Österreich zu
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